Daten
Kommune
Ulm
Dateiname
Weiterentwicklung SRO - Expertise ISSAB.pdf
Größe
713 kB
Erstellt
12.10.15, 21:54
Aktualisiert
27.01.18, 10:11
Stichworte
Inhalt der Datei
Anlage 1 zur GD 293/14
Projekt zur „Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung im
Fachbereich Bildung und Soziales der Stadt Ulm“
Wissenschaftliche Expertise zum Projektprozess
A BSCHLUSSBERICHT
Institut für Stadtteilentwicklung,
Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB)
der Universität Duisburg-Essen
Holzstraße 7-9, 45141 Essen
Tel.: 0201/43764-0, Fax: 0201/43764-26
E-Mail: issab@uni-duisburg-essen.de
www.uni-due.de/biwi/issab
© Stadt Ulm
Inhalt
1
Auftrag ................................................................................................................................ 3
2
Die Maßschneider von Ulm ................................................................................................ 3
3
Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe......................................................................... 5
4
Weiterentwicklung im Fachbereich Bildung und Soziales .................................................. 9
4.1
Projektbeschreibung.................................................................................................... 9
4.2
Fachliche Veränderungen .......................................................................................... 12
4.3
Strukturelle Veränderungen ...................................................................................... 14
5
Wissenschaftliche Rezension ............................................................................................ 15
6
Empfehlungen ................................................................................................................... 19
2
1
Auftrag
Nach den positiven Erfahrungen in der Kinder- und Jugendhilfe beabsichtigt die Stadt Ulm
mit dem Projekt zur „Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung im Fachbereich Bildung
und Soziales“ den bereits etablierten Weg auch für andere Bereiche aufzugreifen und dies an
den sowohl fachlich-inhaltlichen wie räumlich-gestalterischen Intentionen des Fachkonzepts
auszurichten. Dieser Prozess soll wissenschaftlich abgesichert werden, unter anderem durch
diese Expertise, die auf der Analyse der konzeptionellen Grundlagen des Projektes und auf
Interviews mit verantwortlichen Akteuren, Leitungs- und Fachkräften beruht.1
2
Die Maßschneider von Ulm
Angeblich wurde Albrecht Ludwig Berblinger von einem ungeduldigen Polizeidiener
gestoßen, als sein berühmter Flugversuch mit dem von ihm konstruierten Hängegleiter im
Mai 1811 kläglich in der kalten Donau endete. Denn eigentlich hatte er noch gezögert,
vermutlich ahnend, dass die Bedingungen ungünstig waren. Doch so wurde er zunächst ein
Opfer der Fallwinde und schließlich der gesellschaftlichen Ausgrenzung bis zu seinem Tod in
völliger Verarmung. Nicht zuletzt wegen dieser Tragik hat es Berblinger als „Schneider von
Ulm“ zu erheblicher Berühmtheit gebracht und als Erfinder und Konstrukteur ist sein Ruf
längst rehabilitiert, auch wenn ihm das freilich nichts mehr nützt. Dennoch steht er bis heute
als Beispiel für unerschrockenen Pioniergeist und ebenso als Mahnung, sich auch phantastisch anmutenden Zukunftsvisionen nicht von vornherein zu verschließen, sondern ihnen
eine realistische Chance zu geben.
Prinzipiell kann es sich kein gesellschaftlich relevanter Bereich ernsthaft leisten, die
Zukunft und darin mögliche Entwicklungen auszublenden. So kann die Berücksichtigung
1
Gesprochen wurde dabei mit Bürgermeisterin Mann und Bürgermeister Czisch, den Leitungen der
Abteilungen ABI (Ältere, Behinderte und Integration) und FAM (Familie, Kinder und Jugend), den
Sachgebietsleitungen, den Fachkräften im Sozialraum Wiblingen (Modellstandort) sowie dem städtischen
Sozialplaner und einer Personalrätin. Dies geschah jeweils anhand eines teilstandardisierten Leitfadens, der
Fragen zu Vorteilen, Potentialen und Gefahren des Projekts enthielt und außerdem Einschätzungen zu
fachlichen Inhalten und zum Prozess der Umsetzung verlangte. Nicht alle Gesprächspartner/innen wollten sich
zu allen Punkten äußern, weshalb eine Quantifizierung der Antworten nur bedingt sinnvoll war.
3
klimatischer Veränderungen bei Agrarprojekten ebenso wichtig sein wie die Begrenztheit
von Ressourcen in energiepolitischen Erwägungen. Letztendlich wäre es immer fatal, wenn
man die Erkenntnisse von heute bei den Planungen für morgen außer Acht ließe. Dies gilt in
Naturwissenschaft und Technik ebenso wie in allen Facetten des sozialen Bereichs. Denn
überall dort, wo sich die Gesellschaft den Belangen ihrer Mitglieder annimmt, wo es darum
geht, Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu unterstützen, Leiden zu mildern,
Benachteiligungen zu kompensieren, sollte unbedingt ein intensives Ringen um die jeweils
bestmögliche Weise hierfür herrschen. Doch ganz anders als in der Medizin oder dem
Fahrzeugbau findet die entsprechende Debatte im Bereich der Sozialen Arbeit eher im Stillen
und beinahe gänzlich ohne öffentlichen Widerhall statt. Ganz egal ob es dabei um junge, alte
oder behinderte Menschen geht, über Soziale Arbeit wissen die Bürgerinnen und Bürger
zumeist nur, dass sie die Kommunen viel kostet und bisweilen die schlimmen Schicksale von
Betroffenen auch nicht verhindern kann. Gefragt nach deren konkreter Fachlichkeit, und
welche Aspekte diese im Einzelnen ausmachen, würden die meisten vermutlich nur mit den
Schultern zucken.
Dazu passt, dass die wissenschaftliche Diskussion um eben jene Fachlichkeit in der
Sozialen Arbeit durch eine eher unübersichtliche Vielfalt und zum Teil wenig eingängige
Begriffsbildungen geprägt ist, die auch für langjährig erfahrene Fachleute nicht immer leicht
nachzuvollziehen sind.2 Dabei lassen sich zwar einerseits gewisse inhaltliche Hauptströmungen ausmachen, die auf die Befähigung (Capabilities Approach), die Beteiligung
(Partizipation), die Ressourcen sowie das Umfeld (Inklusion) der Betroffenen setzen und sich
gegen Bevormundung und Pauschalangebote aussprechen. Andererseits existieren daneben
zahlreiche ergänzende oder auch alternative Haltungen und Ansätze, die zusammen eine
gewissermaßen bunte Landschaft ergeben, die größtenteils durch eher individuelle
Fachlichkeit geprägt ist. So erstrebenswert ein solcher Zustand für die handelnden Akteure
auch sein mag – immerhin bietet er doch einen erheblichen Spielraum für die eigene
berufliche Verwirklichung –, so be-denklich erscheint er doch wegen der entsprechend
schwankenden Qualität der Hilfen zu sein und gleichzeitig un-denkbar in anderen Feldern
wie der Medizin oder der Psychiatrie. Denn Hilfe sollte keinesfalls Glückssache sein.
2
So versammeln sich alleine in dem Standardwerk von Thole zur Sozialen Arbeit zahlreiche theoretische
Positionen und noch mehr methodische Konzepte: Thole, W. (2010a). (Hrsg.). Grundriss Soziale Arbeit. Ein
einführendes Handbuch (3., überarb. u. erweit. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag.
4
Die Stadt Ulm hat hier schon seit geraumer Zeit die Verantwortung erkannt, im
Interesse der Bürgerinnen und Bürger, den Rahmen für eine einheitliche und effiziente
Fachlichkeit auf qualitativ möglichst hohem Niveau zu schaffen. Dafür wurde, zunächst in der
Kinder- und Jugendhilfe, das Fachkonzept der Sozialraumorientierung implementiert, bei
dem es, vereinfacht gesagt, darum geht, die Soziale Arbeit so zu gestalten, dass regionale
Angebote und individuelle Hilfen möglichst exakt dem tatsächlichen Bedarf entsprechen.3
Mit anderen Worten sollen zunächst übergreifende Aktivitäten die sozialen Räume so
gestalten, dass manche Problemlagen bereits abgefangen und Einzelhilfen möglichst passgenau realisiert werden können, also sozusagen „maßgeschneidert“ sind. Auf diese Weise
hoffen die Verantwortlichen auch, für die zu erwartenden künftigen Entwicklungen in der
Sozialen Arbeit gerüstet zu sein, nämlich steigende Fallzahlen bei sinkenden Ressourcen, die
sich aus dem demographischen Wandel, der kommunalen Finanznot und dem zunehmenden
Fachkräftemangel ergeben dürften.
Bevor nun dieser Prozess der Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung näher
beschrieben und unter verschiedenen Gesichtspunkten entsprechend gewürdigt wird, sollen
zunächst die bisherigen Erfahrungen mit dem Fachkonzept in der Kinder- und Jugendhilfe
dargestellt werden, um einerseits die Intentionen, aber auch bisherige Effekte dieses Ulmer
Wegs als kommunale, gewissermaßen visionäre Strategie zur Etablierung einer zukunftsfähigen, weil maßgeschneiderten, Sozialen Arbeit zu verdeutlichen.
3
Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe
Nach einer ausführlichen Befassung mit fachlichen und fachpolitischen Erfordernissen und
Entwicklungen in der Sozialen Arbeit hat die Stadt Ulm im Jahr 2003 das Fachkonzept der
Sozialraumorientierung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe eingeführt. Mit dem vordringlichen Ziel, die Angebote so bürgernah, frühzeitig und passgenau wie möglich zu
3
Eine zusammenfassende Darstellung zur Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe haben Hinte und Treeß
verfasst: Hinte, W. & Treeß, H. (2011). Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen,
Handlungsprinzipien und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik (2. Aufl.). Weinheim: Juventa.
Darüber hinaus finden sich bei Budde, Früchtel und Hinte einzelne Erfahrungsberichte aus verschiedenen
Städten: Budde, W., Früchtel, F. & Hinte, W. (2006). (Hrsg.). Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten
Praxis. Wiesbaden: VS Verlag. Hierin enthalten ist auch ein Beitrag von Angelika Josupeit zum Thema
„Sozialraumorientierung in Ulm“ (S. 133-145).
5
gestalten, wurde dabei das bisherige zentrale Organisationsprinzip zugunsten einer
regionalen Strategie aufgelöst. Um einerseits Hilfen anbieten zu können, die sich eng an den
Anliegen der Betroffenen orientieren und außerdem in deren unmittelbarem Lebensumfeld
ansetzen, und andererseits vor Ort geeignete Maßnahmen ergreifen bzw. sinnvolle Projekte
realisieren zu können, die im Vorfeld solcher Hilfen soziale Schieflagen im Sinne einer
präventiven Wirkung ausgleichen, wurden insgesamt fünf Sozialräume gebildet und dort
entsprechende Teams installiert.4 Diese bestehen aus den regional zuständigen Fachkräften
der Abteilung für Familie, Kinder und Jugend (FAM), sehen eine enge Kooperation der
Bereiche Sozialpädagogik und wirtschaftliche Jugendhilfe vor und werden durch Fachkräfte
von freien Trägern ergänzt, die ebenfalls regional zuständig sind und im Rahmen der
gemeinsamen Steuerung des Sozialraumbudgets auch Verantwortung für die finanzielle Entwicklung übernehmen.
Diesen Sozialraumteams fällt die Aufgabe zu, gemeinsam mit den Betroffenen Hilfen
zu entwickeln und umzusetzen, die auf deren Willen und Themen beruhen und dabei auch
ihre Ressourcen und die ihres Umfelds maßgeblich berücksichtigen. So entstehen dann
flexibel arrangierte Hilfesettings („Maßanzüge“), die vorrangig ambulant situiert sind und
nur dann stationäre Unterbringungen enthalten, wenn dies fachlich unvermeidbar bzw.
sinnvoll ist. Darüber hinaus sind die Akteure gehalten, auf der Basis dieser Beratungen,
gleichzeitig aber losgelöst von der einengenden Einzelfallperspektive und ergänzt durch
einschlägige Sozialraumkenntnisse, übergreifende regionale Angebote zu entwickeln und
umzusetzen, die vorhandene Bedarfe aufnehmen, drohende Problemlagen antizipieren und
auf diese Weise punktgenau und das jeweilige Gemeinwesen flankierend dafür sorgen, dass
Fälle erst dann zum Fall werden, wenn der Sozialraum mit seinen diesbezüglich präventiven
Potentialen ausgereizt ist.
Abgesehen von gewissen Reibungsverlusten und Abstimmungsproblemen, die ein
derartiger Umgestaltungsprozess mit sich bringt – alleine die dezentrale Organisation
behördlicher Abläufe wie z.B. bei der wirtschaftlichen Jugendhilfe führte zu Verunsicherung
und dem Verlust von Zugehörigkeit – und dadurch zwangsläufig kritischen Gegenwind
4
Beim Zuschnitt der fünf Sozialräume hat man sich am damals schon bestehenden Dialogmodell der Stadt
orientiert (regionale Planungsgruppen) und diese wie folgt benannt: Stadtmitte/Oststadt, Böfingen (mit
Jungingen, Mähringen und Lehr), Weststadt/Söfingen (mit Grimmelfingen, Eggingen, Ermingen, Donautal,
EInsingen), Eselsberg und Wiblingen (mit Unterweiler, Donaustetten, Gögglingen).
6
produziert, weisen die Entwicklungen der letzten zehn Jahre auf unter dem Strich positive
Gesamteffekte hin, die auch in Publikationen und Berichten dokumentiert sind.5 So zeigt z.B.
eine Studie des Landesjugendamtes, dass in der Stadt Ulm zwischen den Jahren 2006 und
2011 verglichen mit den anderen Kreisstädten sehr viel weniger stationäre Erziehungshilfen
in Anspruch genommen wurden (nur etwa halb so viel bezogen auf die jeweils jugendlichen
Einwohner) und auch die Bruttoausgaben deutlich unter dem Schnitt lagen,6 was mit hoher
Wahrscheinlichkeit auf den frühzeitigen Zugang zu Hilfesystemen und den Ausbau lebensweltnaher Unterstützungsstrukturen im Rahmen des sozialräumlichen Ansatzes zurückgeführt werden kann. Grob geschätzte – und unter Berücksichtigung von Einwohnerzahlen und
üblichen Maßnahmekosten – ergibt sich eine jährliche Kostenminderung von etwa fünf
Millionen Euro, die auch als Spielraum für die Weiterentwicklung der sozialen Landschaft in
Ulm gesehen werden kann. Dabei ist zu beachten, dass diese Kostenminderung nicht im
Sinne einer realen Einsparung verstanden werden kann, sondern der Abschwächung eines
Kostenanstiegs aufgrund stetig steigender Bedarfslagen. In den anderen Kreisstädten wurde
nicht so oder in ähnlicher Weise wie in Ulm reagiert, weshalb dort die entsprechende
Entwicklung ganz anders und sehr viel kostenintensiver zu Buche schlägt.
Zur Verdeutlichung der fachpolitischen Relevanz einer solchen Abschwächung der
Kostendynamik sei diese hier kurz in Relation zu anderen möglichen Szenarien im
Zusammenhang mit kommunalen Jugendhilfeausgaben gesetzt. Abbildung 1 zeigt – abstrakt
und beispielhaft – fünf mögliche Entwicklungsszenarien für Ausgaben im Rahmen Sozialer
Arbeit. Aus den Zahlen für die Jahre 2010 bis 2013, die eine unterschiedlich stark ausgeprägte, aber dennoch kontinuierliche Steigerung aufweisen, ergibt sich eine Trendlinie,
welche diese Erhöhungen linear in die nächsten Jahre prognostiziert. Auf dieser Basis lassen
sich dann künftige Ausgaben schätzen, unter der Voraussetzung, dass die Entwicklung weder
durch interne Steuerung noch durch externe Faktoren wesentlich beeinflusst wird (siehe
Szenario 2). Sollten sich jedoch die Problem- und damit auch die Bedarfslagen weiter und
immer mehr verschärfen, würden die Kosten exponentiell steigen oder auch „explodieren“
5
Vgl. Fn. 2, siehe außerdem Veröffentlichungen der Stadt Ulm, z.B. Dokumentation des Fachtages vom 21.
Januar 2003 zum Thema „Sozialraumorientierung in Ulm“.
6
KVJS, Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg, Dezernat Jugend – Landesjugendamt
(Hrsg.): Bericht zu Entwicklungen und Rahmenbedingungen der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen in
Baden-Württemberg 2013. Fortschreibung zum Berichtszeitraum 2006 bis 2011 (verfasst von K. Binder und U.
Bürger). Siehe: www.kvjs.de/jugend/jugendhilfeplanung/kvjs-berichterstattung-hilfen-zur-erziehung.html;
insbesondere S. 101, 120, 123, 125.
7
(Szenario 3). Demgegenüber verhindert man den Anstieg z.B. durch die kategorische
Deckelung von Kosten (Szenario 0) oder auch durch strikte Einsparungsvorgaben, wodurch
eine Trendumkehr (Szenario -1) erreicht werden kann. Will man jedoch planerisch gleichermaßen kommunalen kameralistischen Notwendigkeiten wie fachlichen und sozialpolitischen
Anforderungen gerecht werden, zeigt die Erfahrung, dass es sinnvoll ist, eine möglichst
flache Abschwächung der Kostensteigerungen anzustreben, so wie in dem Szenario 1 dargestellt.
Abbildung 1. Mögliche Szenarien für die Kostenentwicklung
Denn einerseits muss Soziale Arbeit, auch entsprechend ihrer rechtlichen Grundlagen, auf den realen Bedarf angemessen reagieren und sollte dabei andererseits ihre
Reaktionsmodelle so gestalten, dass diese möglichst effizient die intendierten Wirkungen
entfalten. Mit anderen Worten, können gesellschaftliche Veränderungen zwar zu einem
Anstieg der Ausgaben im sozialen Bereich führen, doch dieser muss nicht zwangsläufig
exorbitant sein, sondern kann durchaus auch, dank geeigneter Einflussnahme ohne fachlichen „Kahlschlag“, moderat ausfallen. In der Ulmer Kinder- und Jugendhilfe scheint dieser
Spagat zwischen Bedarf und Finanzen jedenfalls gelungen zu sein. Denn anders als in der
Welt der Mode ist Soziale Maßarbeit zumeist eher kostengünstiger als herkömmliche Konfektionsware.
8
In diesem Sinne äußerten sich unisono auch alle im Rahmen der vorliegenden
Untersuchung Befragten zu der bisherigen Erfahrung mit dem Fachkonzept der
Sozialraumorientierung, die sich im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe demnach durchaus
als eine Art Ulmer Erfolgsgeschichte beschreiben lässt, auch wenn der Weg dorthin mitunter
recht mühsam gewesen ist.7 Neben der Verwirklichung bürgernaher Hilfen, gezielter
individueller Konzepte und der zunehmenden Verankerung fallunspezifischer Arbeit im
Gemeinwesen wird dabei auch die gerade thematisierte Kostenentwicklung ins Feld geführt.
An diesem Punkt ist man sich bewusst, landesweit gewissermaßen führend zu sein, auch weil
die realen Ausgaben seit dem Jahr 2003 zwar gewissen Schwankungen unterworfen gewesen sind, insgesamt jedoch eine vergleichsweise erstaunliche Konstanz aufweisen.8
4
4.1
Weiterentwicklung im Fachbereich Bildung und Soziales
Projektbeschreibung
Aufgrund dieser Erfahrungen mit dem Fachkonzept der Sozialraumorientierung und der,
summa summarum, positiven Effekte haben sich die Verantwortlichen der Stadt Ulm dazu
entschieden, den Ansatz auch jenseits der Kinder- und Jugendhilfe umzusetzen. Im Rahmen
des hier titelgebenden Projekts zur Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung sollen
auch die Unterstützungsangebote der Abteilung Ältere, Behinderte und Integration (ABI)
einbezogen und in enger Kooperation mit der bereits dezentral agierenden Abteilung für
Familie, Kinder und Jugendliche (FAM) regional organisiert werden. Dies betrifft insbesondere die Bereiche Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege, Grundsicherung, Schuldnerberatung
7
So erinnern sich manche an „heftige Diskussionen“, einen „überstürzten Aufbruch“, „personelle Engpässe“
und einen insgesamt „mühsamen Prozess“, der jedoch auf lange Sicht zu „glänzenden Ergebnissen“ geführt hat,
die auch den „Menschen in den Mittelpunkt“ gerückt haben, was zu „100 Prozent eine klasse Sache“ ist. Eine
Fachkraft aus Wiblingen bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Anfangs habe ich das alles für einen großen
Schwachsinn gehalten. Im Nachhinein muss ich aber sagen, ich bin ein Fan der Sozialraumorientierung
geworden.“
8
So sind z.B. die Ausgaben im Zeitraum von 2000 bis 2002 um über 1 Million auf 7,3 Millionen Euro gestiegen,
um sich dann ab Einführung der Sozialraumorientierung, wie gesagt mit gewissen Schwankungen, bis zum Jahr
2013 auf einem Niveau von etwa 7 bis 7,5 Millionen Euro einzupendeln, was z.B. im Jahr 2013 bedeutete, dass
fast 850.000 Euro der vorgesehenen Budgets (Hilfen zur Erziehung) nicht verbraucht wurden und der
Gesamtzuschussbedarf sogar unter dem Wert von 2002 lag.
9
und Wohnraumsicherung und somit natürlich auch alle hier tätigen Fachkräfte, sowohl im
Feld der Sachbearbeitung als auch in der Sozialpädagogik.
Die Ziele des Projektes gipfeln in dem Ideal einer gelingenden Zusammenführung der
Abteilungen bis zum Jahr 2016, sodass dann die genannten Fachgebiete in den bestehenden
fünf Sozialräumen agieren, die im Zuge der dezentralen Organisation der Kinder- und
Jugendhilfe gebildet wurden, und zwar zusammen mit den jeweiligen KollegInnen der
Abteilung FAM, auf der Grundlage des Fachkonzepts der Sozialraumorientierung und in
„gemeinsamer Verantwortung für die Menschen“.9 Vereinfacht gesagt, geht es dabei um
einen übergreifenden Ansatz für kommunale Leistungen im sozialen Bereich, die unter
einem Dach und vor Ort in der Nähe der Bürgerinnen und Bürger angeboten und sich
umfassend an den Anliegen und Möglichkeiten des Quartiers und seiner Bewohner und
Bewohnerinnen orientieren sollen. Zur Realisierung dieser Anliegen und zur Organisation des
Gesamtprojekts „Sozialraumorientierung 2016“ hat die Stadt Ulm mit Unterstützung von
externer Beratung und unter Einbeziehung interner Ressourcen Strukturen geschaffen, die in
ihrer Gesamtheit den Prozess gestalten und steuern.
Hierzu zählen:
Lenkungsgruppe
Teilprojektgruppe Abteilungsfusion ABI und FAM
Teilprojektgruppe Umsetzung Sozialraumorientierung vor Ort
Ergänzende Arbeitsgruppen
Die Teilprojektgruppe zur Abteilungsfusion hat sich im Projektverlauf als notwendig
erwiesen und befasst sich vordringlich mit den Anforderungen an den Organisationsentwicklungsprozess, der sich aus der Zusammenlegung der Abteilungen ABI und FAM
ergibt. Zuständigkeiten, Arbeitsabläufe, Präsenzzeiten, all das ist neu und selbstverständlich
in geeigneter Weise zu organisieren.
Modellhaft erprobt wird der Schulterschluss zwischen den Professionen und Fachbereichen bereits in dem Sozialraum Wiblingen, wo bestehende Räumlichkeiten der Abteilung FAM für die Fachkräfte der Abteilung ABI erweitert werden konnten. Für die Men-
9
Zitiert aus den offiziellen Projektzielen.
10
schen in Wiblingen bedeutet dies, dass sie nun inmitten ihres Einkaufszentrums eine Art
Kompaktbehörde vorfinden, die für ihre sozialen Belange zuständig ist. Dort können sie
vorbeischauen und werden am Empfang zunächst orientierend beraten („Frontoffice“), um
schließlich an geeignete Fachleute vermittelt zu werden. Für diese geht es dann darum, sich
fallbezogen in spontanen Netzwerken oder regelmäßigen Gremien (z.B. Sozialraumteam)
untereinander auszutauschen und bei Bedarf fallunabhängige Aktivitäten (Projekte) zu
koordinieren. Kurze Wege und der Blick über den eigenen fachlichen Tellerrand hinaus
sorgen dabei für eine zielgerichtete und effiziente Hilfegestaltung im Sinne der Betroffenen,
gleichzeitig aber auch für eine gewisse Verunsicherung und Überforderung aufgrund der
umfassend veränderten Arbeitsbedingungen.10
Um die Effekte des Projekts auch übergeordnet beurteilen und hinsichtlich der Ziele
und ihrer Erreichung einordnen bzw. evaluieren zu können, möchte die Stadt Ulm, ähnlich
wie es sich im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe schon bewährt hat, sinnvolle Kennzahlen
entwickeln, wofür bereits gewisse Überlegungen angestellt worden sind. Grundlegende
Zielsetzung z.B. in der Alten- und Behindertenarbeit soll insbesondere die Förderung von
Teilhabe und Selbstbestimmung durch möglichst frühzeitige, niedrigschwellige und maßgeschneiderte Hilfen sein, die effektiv und effizient geleistet werden. Außerdem wird
angestrebt, dass sich Wohnformen und -umfeld an den Bedürfnissen der Betroffenen
ausrichten. Als potentielle Kennzahlen für den Erfüllungsgrad dieser Ziele werden u.a.
prozentuale Verhältnisse zwischen entsprechend flexiblen Hilfearrangements (z.B. Beratungsangebote in Pflegestützpunkten, organisierte Nachbarschaftshilfen, ambulante Hilfen)
und klassischen Formen (z.B. vollstationäre Unterbringung), die Anzahl von qualifizierten
Hilfeplanverfahren, die finanziellen Aufwendungen und der Vergleich mit den jeweiligen
Landesdurchschnittswerten gehandelt. Dabei soll in erster Linie überprüft werden, inwieweit
sich theoretische Anforderungen der Sozialraumorientierung auch in diesen Feldern mit der
Realität der alltäglichen Praxis, also mit spezifischen Bedarfslagen einerseits und dem Handlungsrepertoire der Fachkräfte andererseits, in Einklang bringen lassen, wodurch sich die
Wirksamkeit einer derart grundlegend reformierten Vorgehensweise bestätigen ließe.
10
So sehen die Fachkräfte vor Ort große Vorteile in „schnelleren Abläufen“ und sehr viel „mehr Bürgerkontakt“,
die Leute kämen gerne zum „Schlecker“ (Vormieter der Räumlichkeiten) und äußern schon mal: „Wie praktisch,
dass Sie da sind!“. Andererseits werden aber „unklare Strukturen“ und „mangelnde zeitliche Ressourcen“ als
belastend erlebt, auch steht die Befürchtung im Raum, dass manche Fachkräfte „verheizt“ werden könnten.
11
4.2
Fachliche Veränderungen
Neben einer umfangreichen organisatorischen Neustrukturierung, die eine dezentrale Angebotsgestaltung zwangsläufig mit sich bringt und deren Auswirkungen nachfolgend noch
thematisiert werden, bedeutet Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung in Ulm vor
allem fundamentale fachliche Veränderungen in den betroffenen Bereichen. Waren es die
Fachkräfte bis dato gewohnt, auf ihre jeweiligen Aufgaben spezialisiert in einem Team in
einer gesamtstädtischen Zuständigkeit zusammenzuwirken und bestimmte Leistungen anhand bestimmter Kriterien zu gewähren, so sind sie nun gefordert, im Sinne eines
aktivierenden Ansatzes den Blick auf Willen, Themen und Ressourcen der Betroffenen zu
richten, gemeinsam mit ihnen spezifische Ziele zu entwickeln und zu deren Erreichung
geeignete Hilfearrangements zu kreieren, dies in enger Zusammenarbeit mit den Fachkräften aus anderen Gebieten, die von Fall zu Fall involviert sein könnten, wobei obendrein
auch noch die altvertraute Grenze zwischen Sachbearbeitung und Sozialpädagogik fließend
wird.11 Gemeinsam soll dann dieses Gesamtteam die Fachverantwortung für den Sozialraum
übernehmen und auf der Basis von noch zu definierenden Kooperationsstrukturen mit
ebenfalls regional zuständigen freien Trägern für ein passendes Gesamtangebot sorgen.
Dazu zählen neben den bereits erwähnten maßgeschneiderten Hilfen auch Projekte und
Initiativen im Rahmen von fallübergreifender oder auch fallunspezifischer Arbeit, die
entweder präventiv wirken oder nützliche Synergieeffekte verursachen, sodass die Gesamteffektivität, aber vor allem auch -effizienz der Hilfen steigt.
Nun liegt auf der Hand, dass dieser Gesamtanspruch an die neu formierten Teams
äußerst umfassend ist und sich nur schrittweise und flankiert durch intensive Schulungen
realisieren lässt. Denn natürlich braucht es Zeit, bis sich eine solche fachliche Haltung allen
Teammitgliedern gleichermaßen vermittelt und es dann mehr und mehr möglich wird,
wirklich an einem inhaltlichen Strang zu ziehen. Hier zeigt die Erfahrung, dass es mitunter
längerer Teamentwicklungsprozesse bedarf, bis z.B. bezüglich der Berücksichtigung von
Ressourcen und dem Formulieren von Zielen Einigkeit in den Vorstellungen und im Handeln
11
Angesichts dieser Ansprüche ist wenig überraschend, wenn sich manche überfordert fühlen. So merkte eine
Mitarbeiterin exemplarisch an, sie sei doch „nur Sachbearbeiterin“ und wurde dabei durch eine
Sozialpädagogin unterstützt, die immerhin „ein Studium gebraucht“ hätte, um eine solche Haltung fachlich zu
verinnerlichen.
12
besteht. Was sich zunächst einleuchtend anhört und als fast banal plausibel daherkommt,
entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als komplexes Unterfangen in einer Praxis sozialer
Dienstleistungen, die traditionell durch Defizitfokus, Kompensationslogik und tendenziell
bevormundende Versorgungsansprüche gekennzeichnet ist. Insofern kann man hier keine
schnelle Wende erwarten, sondern muss mit einem allmählichen Umdenken kalkulieren.
So gesehen hat sich das Team in Wiblingen erstaunlich zügig insoweit formiert, als
dass hier tatsächlich die Akteure vor Ort nach Kräften zusammenwirken, Grenzen zwischen
Professionen und Kompetenzen fließend werden und stellenweise neue Lösungsideen auf
ungewohnt kurzen Wegen realisiert wurden. Ganz eindeutig ist die Nähe zu den Bürgerinnen
und Bürgern gewachsen, die zwar dadurch mitunter auch die Anonymität zentraler Ämter
vermissen, in denen sich ihre vermeintliche Bedürftigkeit in langen Fluren verliert und
insbesondere den Nachbarn verborgen bleibt, im Großen und Ganzen jedoch die guten
Kontaktmöglichkeiten, schnelle Auskünfte und prompte Hilfeangebote durchaus zu schätzen
wissen. Auf diese Weise haben sich laut Auskunft der Beteiligten schon einige bemerkenswerte Effekte verzeichnen lassen, was die Kooperation in der alltäglichen Praxis betrifft, die
man so nicht erwartet hätte. Gleichzeitig ist dem Team jedoch auch bewusst, dass man sich
erst am Anfang des inhaltlichen Prozesses befindet, der auch als probeweise „gelebte
Fusion“ bezeichnet werden kann.12
Dabei darf auch keineswegs vergessen werden, dass Vorwissen und -erfahrungen mit
dem Fachkonzept der Sozialraumorientierung innerhalb, aber insbesondere auch zwischen
den Abteilungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, wodurch gewisse fachliche Lücken
entstehen, die sich nicht alleine durch komprimierte Schulungen schließen lassen. Hier sind
planerisches Augenmaß und ausreichende Zeitkontingente gefragt, damit die Visionen rund
um dezentrale Hilfen unter einem Dach in der konkreten Arbeit des Wiblinger Teams
dauerhaft lebendig werden können.
In diesem Kontext fällt besonders ins Gewicht, dass die geplante Umsetzung der
grundlegenden Anliegen der Sozialraumorientierung für alle Beteiligten mehr oder weniger
grundlegende Veränderungen auch für die alltäglichen Arbeitsabläufe und das jeweilige
Anforderungs- und Aufgabenprofil mit sich bringt. Zwar sind all diese strukturellen
Veränderungen in erster Linie Themen des ergänzenden Organisationsentwicklungs12
Hierüber wurde nicht nur von den Fachkräften in Wiblingen berichtet, sondern auch von Leitungskräften und
anderen Verantwortlichen, die von solchen kreativen Lösungsideen besonders begeistert waren.
13
prozesses, der sich mit den Konsequenzen der Abteilungsfusion befasst und nicht
Gegenstand dieser Abhandlung sein soll, doch erscheint es wenig sinnvoll bzw. gar nicht
möglich, hier das eine ohne das andere zu betrachten. Denn bezüglich der reinen fachlichen
Ideen und der fundamentalen Intention, die Bürgerinnen und Bürger von Ulm durch flexible
Hilfen zu befähigen, ihre eigenen Ziele mit möglichst eigenen Ressourcen zu erreichen,
herrscht eine breite Zustimmung vor, die durchaus als tragfähiger Konsens gelten kann, das
haben hier sämtliche Interviews und Analysen gezeigt, alleine was die Umsetzung und die
damit verbundenen strukturellen Effekte betrifft, daran scheiden sich die Geister mitunter.
4.3
Strukturelle Veränderungen
Auf den ersten Blick scheinen die Veränderungen auf der strukturellen Ebene überschaubar
zu sein, wenn dezentrale Dienste regionalisiert werden, da schließlich „nur“ die jeweiligen
Fachteams aufgeteilt und die betroffenen Fachkräfte den Regionen zugeteilt werden
müssen. Doch genau hier liegt – sprichwörtlich – der Hund begraben und versteckt sich
obendrein der Teufel im Detail. Über einen längeren Zeitraum gewachsene Strukturen, wie
sie sich in einer Abteilung wie ABI zwangsläufig entwickelt haben müssen, sind mehr als die
Gesamtheit von Handlungsabläufen in verschiedenen Untereinheiten, sondern können
durchaus als komplexes Gebilde betrachtet werden, in dem einzelne Akteure bestimmte
Funktionen haben, die oft nur bedingt durch einheitliche Stellenbeschreibungen definierbar
sind, sodass hier das Ganze tatsächlich mehr bzw. etwas anderes ist als die Summe seiner
Teile. Und dieses Ganze löst sich bei einer Aufteilung gewissermaßen erst einmal vollständig
auf und muss dann wieder neu zusammengedacht und -gebracht werden.
Verständlicherweise löst dies bei den betroffenen Fachkräften, neben Reiz und Anreiz
des Neuen, auch Ängste und Unsicherheit aus. Insbesondere befürchten die Fachkräfte den
Verlust von Teamwissen und besonderen Kompetenzen in den einzelnen Fachgebieten, der
sich aus einer Aufteilung in hierfür zu kleine Untereinheiten ergibt, und sehen z.B. folgende
Probleme bzw. Unklarheiten:
Fachaufsicht
Präsenz in Besprechungen
14
Regelung von Vertretungen
Umfang von Wissensgebieten
Fachlicher Austausch untereinander
Dazu passt, dass auch auf kommunalpolitischer Ebene zwar ebenfalls die, bereits
angeführte, breite Zustimmung zu den Prinzipien der Sozialraumorientierung zu finden ist,
von finanzpolitischer Seite jedoch die Frage im Raum steht, ob es hierfür zwingend nötig ist,
die bestehende Abteilung in den fünf Sozialräumen anzusiedeln, wodurch auch Mehrkosten
zu befürchten wären, oder ob man nicht den inhaltlichen Anforderungen genauso in einer
städtischen Einheit genügen könnte, auch in Anbetracht der Größe von Ulm. Somit zeigt sich
deutlich, dass vor allem diese Aufteilung und Umsiedlung der Fachkräfte als kontrovers
diskutiertes Thema einzustufen ist.
5
Wissenschaftliche Rezension
Die aktuelle Fachdiskussion um allgemeine Strukturprinzipien und methodische Maximen in
der Sozialen Arbeit ist, wie einleitend bereits angemerkt, weniger durch einen mittels
Empirie befeuerten Widerstreit großer Denkschulen gekennzeichnet, als durch eine Vielzahl
von mehr oder weniger komplexen fachlichen Wortmeldungen, die aus ihren eigenen theoretischen Rahmensetzungen ihre eigenen praktischen Konsequenzen ziehen, wobei bestimmte fachliche Standards, wie z.B. die Realisierung flexibler Hilfen, die auf individuellen
Zielsetzungen beruhen und auf die Aktivierung der Betroffenen durch Ressourcen aller Art
setzen, in der Summe der Ansätze deutlich stärker vertreten sind als eher exotischere
Vorgehensweisen, wie z.B. der Einbezug von astrologischen Prognosen. Deshalb können
eben jene Prinzipien als derzeitiger sozialwissenschaftlicher „State of the Art“ gelten, was
natürlich auch mit der Bewährung dieser Standards im Rahmen der alltäglichen Arbeit in den
Ämtern und Einrichtungen zusammenhängt, wo sich die handelnden Akteure in erster Linie
mit den realen Anliegen der Betroffenen befassen müssen und wo für das ausführliche
Brüten über theoretischen Grundlagen eher weniger Zeit bleibt.
Aus der unübersichtlichen Gemengelage akademischer Einlassungen ragt das Fachkonzept der Sozialraumorientierung insofern heraus, als dass es nicht als letztgültiger „Stein
15
der Weisen“ verstanden werden will, sondern als vorläufige Conclusio bewährter Ansätze,
die verschiedene theoretische Impulse zu einer gemeinsamen Linie bündelt, die als grobe
Richtschnur dienen und gleichzeitig auch Spielraum für kreative und unkonventionelle
Lösungen bieten soll. Indem Sozialraumorientierung kompromisslos die jeweiligen Anliegen
und den Willen der Betroffenen ins Zentrum der Bemühungen rückt, indem für die
Erreichung individueller Ziele das sozialräumliche Umfeld aktiviert wird, indem öffentliche
und freie Träger eine gemeinsame soziale Verantwortung für „ihr“ Stadtviertel übernehmen,
verbindet sie humanistische Ideale mit juristischen Vorgaben und fachlichen Anforderungen,
wie z.B. Partizipation und Inklusion. Mit anderen Worten, macht sie einer Stadt ein Angebot,
wie Soziale Arbeit im Großen und Ganzen funktionieren kann. Dies weist natürlich weit über
die Grenzen einzelner Leistungen wie z.B. Jugend- oder Eingliederungshilfe hinaus und betrifft auch infrastrukturelle und städtebauliche Planungen, weshalb Sozialraumorientierung
ganz grundsätzlich als kommunales Gestaltungsprinzip verstanden werden sollte.
Da Sozialräume gebildet und vorhandene Ressourcen entsprechend verteilt werden,
besteht nämlich auch die Möglichkeit, die tatsächlich notwendige Höhe dieser Ressourcen
genauer in den Blick zu nehmen und mit dem regionalen Bedarf in Einklang zu bringen, und
zwar möglichst effizient. Die bereits benannten gesellschaftlichen Veränderungen legen
schließlich die Vermutung nahe, dass künftig kaum mehr finanzielle Mittel für geringere
Problemlagen zu Verfügung stehen dürften, sondern eher genau umgekehrt. Steigende
Fallzahlen aufgrund des demographischen Wandels, insbesondere bei den Hilfen für alte
Menschen und Menschen mit Behinderung, bei gleichzeitigen Engpässen in kommunalen
Haushalten und einem sich verschärfenden Fachkräftemangel im sozialen Bereich machen es
für eine Stadt zwingend erforderlich, sich hierauf einzustellen und die eigenen Hilfesysteme
entsprechend zukunftsfähig zu gestalten.
Das Projekt zur Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung in Ulm will und kann
mittel- und langfristig in diesem Sinne elastische Strukturen schaffen, die es mit den drohenden Entwicklungen in jeder Hinsicht aufnehmen können. Indem die beiden großen Leistungsbereiche, die traditionell in Jugend- und Sozialämtern organisiert sind, auf regionaler Ebene
in jeder Hinsicht zusammengeführt werden, um das Gesamtangebot an Hilfen so effektiv
und effizient wie möglich zu gestalten, beweist die Stadt Ulm einen in der Konsequenz
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bislang einmaligen Pioniergeist.13 Dabei werden auch die zuvor dargestellten Erfahrungen
aus der Jugendhilfe und die sich daraus ergebenden Spielräume genutzt, um vergleichbare
Effekte in den anderen Bereichen erzielen zu können. So werden die diesbezüglichen
Potentiale beispielsweise in der Eingliederungshilfe zwar aufgrund der langwierigeren und
aufwendigeren Hilfeprozesse insgesamt wohl anteilig geringer ausfallen, doch erscheint hier
eine Abschwächung des zu erwartenden Kostenanstiegs besonders notwendig zu sein, wenn
man bedenkt, dass mit jährlichen Steigerungsraten von etwa fünf Prozent zu rechnen ist.14
Nicht zuletzt deshalb ergibt sich ein dringender Handlungsbedarf, dem die Stadt Ulm mit
dem Projekt zur Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung in der zuvor beschriebenen
Weise begegnen will.
Damit sich dies jedoch auch realisieren lässt, ist es in einem derart gravierenden
Veränderungsprozess unabdingbar, dass wirklich alle Beteiligten sozusagen nicht nur an
einem Strang ziehen, sondern dabei möglichst auch noch im selben Boot sitzen, weshalb
kurzfristig das Hauptaugenmerk auf der Konsensbildung über die Hierarchieebenen hinweg
liegen sollte. Wer Menschen in seiner Arbeit befähigen soll, selbst Herr der Lage zu werden,
darf sich nicht als eher machtloser Spielball übergeordneter Interessen empfinden. Wer den
Pioniergeist für eine bislang eher beispiellose Reform seiner Arbeit – denn nichts anderes ist
die geplante Fusion von Jugend- und Sozialamt – aufbringen soll, muss dies aus einer inneren
Überzeugung heraus bewerkstelligen und nicht aufgrund von Dienstanweisungen, die zwar
befolgt, aber insgeheim abgelehnt werden.
Abbildung 2 zeigt, wie ein gelingender bzw. „getragener“ Veränderungsprozess idealtypisch ablaufen sollte. Dabei wird angenommen, dass in einem solchen Kontext üblicherweise jeweils etwa ein Drittel der Beteiligten zu den Befürwortern und zu den Skeptikern
zählen, während das restliche Drittel aus Visionären und Antagonisten besteht. Der Grad der
Zustimmung oder auch Ablehnung ist in diesem Fall über die einzelnen Ebenen, also
Fachkräfte, Führung und Verantwortliche, in etwa ähnlich verteilt, weshalb die Richtung und
die Dynamik der Entwicklung gleichförmig und auch etwas behäbig erscheinen. Dabei liegt es
in der Natur der Sache, dass die Visionäre eher bei den Verantwortlichen zu finden sind, da
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Zwar wurden und werden in einigen Kommunen immer wieder Versuche unternommen, neben der Jugendhilfe auch andere Leistungen sozialräumlich zu organisieren, doch beschränken sich diese zumeist auf
bestimmte Teilbereiche, wie insbesondere die Eingliederungshilfe. Eine komplette Fusion von Jugend- und
Sozialamt, wie sie in Ulm angestrebt wird, ist dabei noch nicht realisiert worden.
14
Schätzung auf der Basis von bisherigen Entwicklungen in vergleichbaren Zusammenhängen.
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diese schließlich u.a. für die Initiierung und auch Umsetzung von Change-ManagementProzessen zuständig sind.
Abbildung 2. Organisationsentwicklung: Getragener Prozess
Demgegenüber visualisiert Abbildung 3 einen in gewisser Weise „kippenden“ Prozess,
bei dem die Verantwortlichen fast als alleinige Visionäre vorneweg marschieren, während
bei den Fachkräften die Skepsis überwiegt und die mittlere Führungsebene irgendwie
versuchen muss, dass die Verbindung nicht völlig abreißt. In einem solchen Fall würde der
Entwicklungsprozess früher oder später ins Stocken geraten und das Gros der positiven
Effekte könnte in langwierigen Auseinandersetzungen und durch mehr oder weniger offene
Widerstände zerrieben werden. Was das hier analysierte Projekt der Stadt Ulm betrifft, so
besteht diesbezüglich aktuell wohl keine akute Gefahr, allerdings scheint es durchaus ratsam
zu sein, auch leiseste Anzeichen hierfür ernst zu nehmen, um einem möglichen Kippen des
Prozesses frühzeitig entgegenzuwirken, auch und vor allem im Interesse der Projektinhalte,
die, wie soeben dargelegt, eng am derzeitigen „State of the Art“ im Bereich der Sozialen
Arbeit ausgerichtet sind. Denn zweifelsohne werden die Früchte der Bemühungen rund um
jene Inhalte nicht sofort vom Baum fallen, sondern ziemlich wahrscheinlich erst im Laufe der
Zeit allmählich „heranreifen“, weshalb allen Beteiligten auch klar sein muss, dass zunächst
die ein oder andere „Durststrecke“ zu bewältigen ist, und dies am besten gemeinsam.
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Abbildung 3. Organisationsentwicklung: Kippender Prozess
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Empfehlungen
Ganz grundsätzlich und kurz zusammengefasst wird der Stadt Ulm aus wissenschaftlicher
Sicht und auch aus den beschriebenen sozialpolitischen Erwägungen heraus unbedingt empfohlen, den eingeschlagenen Weg zur Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung im
Fachbereich Bildung und Soziales weiterzuverfolgen. Die Stadt befindet sich dabei nämlich
auf einer beispiellosen Reise hin zu einer größtmöglichen einheitlichen Hilfequalität für ihre
Bürgerinnen und Bürger auf der Basis von zukunftsfähigen Strukturen.
Beachtenswert könnten in diesem Kontext jedoch gewisse Kurskorrekturen oder auch
Ergänzungen sein, die in den nun folgenden fünf Empfehlungen formuliert sind und anschließend näher erläutert werden:
(1) Kommunaler Konsens zur konsequenten sozialräumlichen Verortung aller
Hilfeangebote auf der Basis einer mehrjährigen Kosten-Nutzen-Rechnung
(2) Inhaltliche Qualifizierung der Kennzahlensystematik durch geeignete Indizes
(3) Entwicklung spezifischer Kooperationsstrukturen mit Leistungsanbietern bzw.
freien Trägern nach dem Vorbild der Kinder- und Jugendhilfe
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(4) Verstärkung von Schulungskonzepten und fachlichem Austausch ohne zeitlichen
Druck
(5) Restlose Bewältigung der Neustrukturierung durch Lösung, Kompensation oder
Anerkennung organisatorischer Probleme
Zunächst ist es von besonderer Bedeutung, dass auch auf der Ebene der kommunalpolitisch Verantwortlichen Einigkeit besteht, und zwar nicht nur was die Inhalte betrifft,
sondern auch den Weg der Umsetzung und die hierfür einzuplanenden Ressourcen. Auch
wenn es unter Umständen nicht im Sinne berechtigter Interessen mancher Fachkräfte ist
und auch aus kameralistischer Perspektive vieles dagegen spricht, so scheint die konsequente Verortung der Angebote beider Abteilungen in den Sozialräumen unumgänglich zu
sein, will man die Grundlage für eine dauerhafte Umsetzung des Fachkonzepts schaffen.
Dabei ist es allerdings nicht zwangsläufig notwendig, einer sturen Divisionslogik zu folgen,
sondern durchaus denkbar, innerhalb der regionalen Teams z.B. gewisse „Kompetenzinseln“
vorzusehen oder diese durch eine „Kompetenzzentrale“ mit Springerfunktion zu ergänzen.
Wie dies im Einzelnen gestaltet sein könnte, sollte und wird im Rahmen des Prozesses zur
Organisationsentwicklung geklärt. An dieser Stelle bleibt nur der vermeintlich banale Hinweis, dass Sinnhaftigkeit keinen, wie gut auch gemeinten, Vorgaben geopfert werden darf,
und auch das „Stadtsäckel“ nicht unverhältnismäßig belastet werden sollte. Denn natürlich
erfordert eine solche Umstrukturierung kurzfristig Investitionen, die sich jedoch mittel- und
langfristig im Sinne des Abschwächungsszenarios aus Abbildung 1 amortisieren sollten. Für
einen entsprechenden Nachweis gegenüber den zuständigen Stellen wäre hier sicherlich
eine mehrjährige Kosten-Nutzen-Rechnung sinnvoll. Manchmal muss man erst einmal
Schneepflüge anschaffen, um sich später damit freischaufeln zu können.
Desweiteren wäre es zur Bewertung der Projekteffekte angebracht, die bisherigen
Überlegungen zu einer Kennzahlensystematik durch Indizes beispielsweise zum Einbezug von
Ressourcen, zur Passgenauigkeit der Hilfen, zu Zielqualität und Zielerreichung sowie zu
fallunspezifischer Projektarbeit zu ergänzen, um auf diese Weise die quantitative Fall- und
Ausgabenstatistik durch fachliche Aspekte anzureichern. Spätestens an diesen Punkten wird
es dann auch notwendig, spezifische Kooperationsstrukturen mit Leistungsanbietern bzw.
freien Trägern, nach dem Vorbild der Kinder- und Jugendhilfe, zu entwickeln, damit die
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sozialräumliche Idee tatsächlich Gestalt in Form von maßgeschneiderten Hilfen und auch
fallunspezifischen Projekten annehmen kann.
Bis dahin sollte das Schulungskonzept, insbesondere für die sozialräumlich weniger
erfahrenen Fachkräfte, ausgebaut und auch sonst immer wieder, ohne zeitlichen Druck, an
der gemeinsamen Haltung gearbeitet werden, die für die Umsetzung fachlicher Ideale
unabdingbar ist. Fast noch etwas wichtiger scheinen jedoch derzeit die alltäglichen Widrigkeiten zu sein, mit denen die Fachkräfte im Rahmen der Neuorganisation ihrer Arbeit zu
kämpfen haben. Erst wenn all diese Probleme optimalerweise gelöst oder zufriedenstellend
kompensiert oder wenigstens als solche anerkannt sind, werden sämtliche Fachkräfte den
Kopf frei haben, um tatsächlich zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern für maßgeschneiderte Hilfen sorgen zu können, zumindest in ersten Ansätzen. Sicher ist zweifellos,
dass es ohne deren Engagement nicht funktionieren kann und wird.
Der berühmte Schneider von Ulm jedenfalls, der heutzutage rundum rehabilitiert als
technischer Pionier und auch Visionär gilt, hat die Sache mit dem Fliegen damals zumindest
probiert, nur leider „hot‘n der Deifel en d‘ Donau nei g‘führt“,15 ein Schicksal, das den
sozialen Maßschneidern keinesfalls zu wünschen ist und wohl auch erspart bleibt, wenn die
Ideen von allen mehr oder weniger geteilt werden. Denn ganz sicher ist es sinnvoller, gemeinsam zu fliegen, als vorneweg visionär und alleine im Fluss zu landen.
Essen, 07.08.2014
Vincent Richardt, Johannes Groppe
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Aus einem bekannten Ulmer Spottvers.
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