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Köln
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Anlage 2 Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS).pdf
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03.11.17, 03:27
Aktualisiert
24.01.18, 05:17
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374
Prof. Lechleuthner
02.09.2017
Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
Ein Beitrag zur Optimierung des Rettungsdienstes
unter den Rahmenbedingungen weiterhin steigender Einsatzzahlen
Alex Lechleuthner
Kurzfassung:
Seit Jahren steigen die Einsätze im Rettungsdienst an (4-10% jährlich), ohne dass ein Ende
absehbar ist. Eine wesentliche Information dabei ist, dass es nicht die lebensbedrohlichen
Einsätze sind, die ansteigen. Von den Einsatzkräften wird dies beklagt („immer mehr
Bagatellen“) und bei den Trägern des Rettungsdienstes führt dies zu einer beständigen
Anpassung durch den Zusatz von Rettungsmitteln, Fachpersonal und Baumaßnahmen. Die
Diskussionen, wie damit umgegangen werden kann, haben bislang schon zu zahlreichen
Vorschlägen geführt. In diesem Papier wird der Vorschlag eines „gestuften
Versorgungssystem im Rettungsdienst“ (GVS) vorgestellt und soll einen Beitrag zur
Weiterentwicklung liefern. Kernelemente sind im Bereich der Gefahrenabwehr die
Herausnahme von „Akutfällen“ aus der hilfsfristgestützten Bedienung mit Einsatzmitteln der
Notfallrettung (akute innere und äußere Gefahren) und die Einführung von zwei neuen,
zusätzlichen Versorgungsstufen, dem Notfall-Krankentransport (für äußere Gefahren mit
drohenden inneren Gefahren) und einem Arztbesetzten Fahrzeug (NEF, eigenes Fahrzeug,
aber ggf. auch RTW mit ärztlicher Supervision) für Akutfälle mit drohenden inneren
Gefahren, die Reaktions-Zeitfenstern zwischen 20 und 60 min ermöglichen. Das GVS
eröffnet damit eine differenzierte Entsendungstaktik und erhöht damit die Anforderungen an
die Leitstelle. Die Zuständigkeiten der anderen notfallmedizinischen Versorgungsbereiche,
die Krankenhaus- und die vertragsärztliche Versorgung, werden durch das GVS nicht
tangiert. (DOI: 10.13140/RG.2.2.26984.57609)
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Inhaltsverzeichnis
1. Notfallmedizinische Versorgung in Deutschland .............................................................................. 4
2. Steigende Einsatzzahlen im Rettungsdienst – Ursachen................................................................ 6
3. Im öffentlichen Fokus - Hilfsfristen im Rettungsdienst ..................................................................... 8
3.1. Steigende Einsatzzahlen durch nicht-lebensbedrohliche Notfälle .................................................... 9
3.2. Zeit – was bedeutet sie für die Rettung ? .......................................................................................... 9
3.3. Eine im Prinzip gleichbleibende Zahl von zeitkritischen Notfällen und eine gleichzeitig stetig
steigende Zahl von Rettungseinsätzen – wie passt das zusammen?...................................................... 11
4. Diskussion Lösungsansatz 1 – Erhöhung der Anzahl hilfsfristbasiert stationierter
Rettungsmittel ........................................................................................................................................... 13
4.1. Erforderliche Neubauten ................................................................................................................. 13
4.2. Bestehender Fachkräftemangel ....................................................................................................... 14
4.3. Mitarbeiterbelastung ....................................................................................................................... 14
4.4. Nachteil – steigende Kosten denen kein medizinischer Nutzen gegenübersteht ........................... 15
4.5. Vorteil und Sicherheit des Lösungsvorschlags 1 .............................................................................. 16
4.6. Zusammenfassende Bewertung des Lösungsansatzes 1 ................................................................. 16
5. Diskussion Lösungsansatz 2 - Die Leitstelle differenziert die Anrufe nach Dringlichkeit ......... 17
5.1. Rettungsdienst mit RTW und Notarzt (NEF, RTH) ............................................................................ 18
5.2. Rettungsdienst mit qualifiziertem Krankentransport (KTW) ........................................................... 18
5.3. Vergabe an die II. Säule der Notfallversorgung – die niedergelassenen Ärzte ................................ 19
5.4. Der „Akutfall“ eine neue Patientengruppe ? ................................................................................... 21
5.5. Abgrenzung von Notfall- und Akutpatienten unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr –
Vorschlag einer Klassifizierung................................................................................................................ 22
5.6. Wie könnte bei diesen Rahmenbedingungen eine bessere Verzahnung zwischen der 2. Säule
(niedergelassene Ärzte) und der 3. Säule (Rettungsdienst) aussehen ? ................................................ 24
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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5.7. Ist es schon jetzt möglich lebensbedrohliche Erkrankungen in der Leitstelle zu erkennen und
beschleunigt zu bearbeiten ? .................................................................................................................. 25
5.8. Identifizierung, Triagierung und Priorisierung – Auswirkungen auf die Leitstelle........................... 27
5.9. Zusammenfassende Bewertung des Lösungsansatzes 2 ................................................................. 28
6. Umsetzungsvorschlag – ein gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS) ............ 28
6.1. Gestuftes Versorgungsystem im Rettungsdienst (GVS) ................................................................... 29
6.2. Mehr Patienten für den Rettungsdienst ? ....................................................................................... 33
6.3. Gibt es Hindernisse bei der Umsetzung eines GVS ? ....................................................................... 33
7. Zusammenfassung und Ausblick ...................................................................................................... 35
8. Literaturverzeichnis ............................................................................................................................. 38
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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1. Notfallmedizinische Versorgung in Deutschland
Die notfallmedizinische Versorgung in Deutschland ruht auf drei Säulen, deren
Entwicklung historisch gewachsen ist. Das 3-Säulen-System erklärt sich aus der
Aufbauarbeit ab dem Nachkriegsdeutschland der 50iger.
Zunächst wurde in Deutschland nach dem II. Weltkrieg das „zwei Säulenmodell“ der
gesamtmedizinischen Versorgung gesetzlich (RVO) etabliert. Die erste Säule stellt die
„stationäre Versorgung“ durch die Krankenhäuser dar, die zweite die „ambulante
Versorgung“ durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Der Krankentransport bzw. die
„Unfallrettung“ wurde damals (noch) nicht als medizinisches Versorgungssystem
wahrgenommen, da außer einigen Basismaßnahmen nichts anderes als „Transport“
gemacht worden ist. Dies spiegelt sich im Refinanzierungssystem der gesetzlichen
Krankenversicherung (SGB V) bis heute wieder, in dem der Rettungsdienst nach wie
vor unter „Fahrtkosten“ geführt wird.
Der Rettungsdienst von heute hat sich zwischenzeitlich zu einem leistungsfähigen
Versorgungssystem weiterentwickelt, in dem alle notfallmedizinischen und
intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten verfügbar sind. Er ist in verschiedene
Leistungssegmente ausdifferenziert, wie die flächendeckende und reaktionsschnelle
Abdeckung mit Fahrzeugen des Regelrettungsdienstes (Notarzteinsatzfahrzeuge,
Rettungswagen), dem Luftrettungsdienst mit Notarzt (Rettungs- und
Intensivtransporthubschrauber), dem Spezialrettungsdienst mit Intensivtransport,
Schwergewichtigen Transport, Inkubatortransport für Frühgeborene und dem
Infektionstransport mit besonders ausgestatteten Fahrzeugen. Der Rettungsdienst trägt
den Weiterentwicklungen der klinischen Versorgung Rechnung, indem er die
Zentrenbildung (z.B. Schlaganfallstationen, Traumazentren, Herzkatheterlabore,
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Spezialabteilungen, etc.) erfasst und die Notfallpatienten mit dem akuten Bedarf, der
anhand eigenständiger Diagnostik festgestellt wird, an zeitkritischer Spezialversorgung
unmittelbar dorthin transferiert werden. Früher kam der Patient erst in das nächste
Krankenhaus, wo die erste Diagnostik gemacht werden konnte, um dann zu
entscheiden, ob eine Weiterverlegung notwendig wird. Die dabei auftretenden
Zeitverluste können heute vermieden werden. Möglich wurde dies mit der
Professionalisierung des Rettungsdienstes, die einher ging mit einer Verbesserung der
Ausbildungen. Beispielhaft sind hier zu nennen 1977 Rettungssanitäter, 1989
Rettungsassistent, 2014 Notfallsanitäter, ab 2002 spezielle Studienangebote für
technisch-organisatorische Bereiche (z.B. Rettungsingenieur an der TH Köln), sowie im
ärztlichen Bereich die Ausbildung „Arzt im Rettungsdienst“, sowie die
Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin“. Hinzu kommen eine Vielzahl von
Sonderausbildungen und -kursen für einzelne Segmente im Rettungsdienst, sowie eine
konsequente und umfangreiche Weiterentwicklung der Konzepte sowohl für konkrete
Notfallbilder (z.B. Algorithmen, SOP, SAA, etc.) als auch für Einsatzpläne bei
Großschadens- und Sonderlagen (z.B. MANV, Ü-MANV, Terror, Amok, etc.). Die
Rückfallebenen bei Großschadenslagen bilden dabei der Krankentransport und die
Ressourcen des Katastrophenschutzes. Zentraler Baustein des Rettungsdienstes ist die
Rettungsleitstelle mit ihrer zentralen Erreichbarkeit über die Notrufnummer 112, die den
Zugang zum Rettungsdienst rund um die Uhr ermöglicht (= „niederschwelliges“
Zugangssystem).
Diese Darstellung illustriert eindrucksvoll die heutigen Möglichkeiten des
Rettungsdienstes bei akut lebensbedrohlichen Notfällen und Unfällen, für die der
Rettungsdienst ausgelegt ist.
Damit ist der Rettungsdienst zu einer eigenständigen und leistungsfähigen 3. Säule der
notfallmedizinischen Versorgung in Deutschland aufgewachsen. Der Zusammenhang
zwischen Notfallversorgung und klinischer Weiterbehandlung, wurde zuletzt im
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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sogenannten Eckpunktepapier 2016 zur notfallmedizinischen Versorgung der
Bevölkerung in der Prähospitalphase und in der Klinik“ (Fischer et al. 2016) adressiert.
2. Steigende Einsatzzahlen im Rettungsdienst – Ursachen
Die Anzahl der Notrufe, die zu einem Rettungseinsatz führen, steigen in den meisten
Gebieten Deutschlands kontinuierlich an. In Köln sind es jährlich im Mittel +4,5 %, aus
anderen Regionen werden teilweise auch 8 oder 10% berichtet (Lechleuthner und
Wesolowski, 2015).
Allerdings sind die Ursachen für die steigende Inanspruchnahme der Ressourcen im
Notfallbereich bislang wenig untersucht. Häufig werden der demographische Wandel
(Menschen werden immer älter) und das gestiegene Anspruchsdenken vermutet.
Blickt man in die verfügbaren Fakten, stellt man rasch fest, dass die Datenlage dazu
dürftig ist. Zwar sind sich die in der rettungsdienstlichen Praxis tätigen Kräfte
überwiegend einig, dass hinter einem beträchtlichen Anteil der (steigenden) Anzahl von
Notrufen keine lebensbedrohlichen Notfälle stecken, allerdings sind die bisher dazu
verfügbaren, dokumentierten Daten nicht so belastbar, dass sich eine flächendeckende
Quantifizierung dazu machen ließe. Das liegt zum einen darin, dass nur wenige
(wenngleich derzeit stark wachsend) Rettungsdienste bislang über eine elektronische
Datenerfassung verfügen. Zum anderen liegt es aber auch darin, dass sich die
derzeitigen Dokumentationssysteme (sie orientieren sich überwiegend an den
vorhandenen DIVI-Protokollsystemen) überwiegend auf Notfall- und Unfallsituationen
beziehen. Das hat zur Folge, daß beispielsweise auch Bagatellerkrankungen unter dem
Signum „Notfall“ dokumentiert werden und die Schwere der Erkrankung überwiegend
nur mit einer „Schätzskala“ (7 NACA-Stufen), speziell in den interessierenden
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Übergangsbereichen zwischen lebensbedrohlich und nicht lebensbedrohlich, relativ
grob klassifiziert wird.
Zwar gibt es zahlreiche Ansätze, die Genauigkeit der Aussagen in den
Notfallprotokollen zu steigern, allerdings läßt sich daraus nicht ohne weiteres eine
verlässliche Klassifizierung ableiten und deshalb auch der konkrete Versorgungsbedarf
identifizieren. Damit ist es auch kaum möglich zu beschreiben, wie ein zur Versorgung
geeignetes System aussehen kann. Auch für eine Optimierung des Zusammenspiels
zwischen den an der Notfallversorgung beteiligten Systemen (Notfallaufnahme
Krankenhaus, ambulante medizinische Versorgung und Rettungsdienst) liefern diese
Dokumentationen in den Notfallprotokollen keinen nennenswerten Beitrag.
Der Rettungsdienst weist gegenüber den anderen beiden Säulen jedoch eine
Besonderheit auf, es gibt für ihn keine vergleichbare Alternative. Das führt dazu, daß
alle Hilfeersuchen, bei denen die Patienten nicht, oder nicht schnell genug in den
beiden anderen notfallmedizinischen Säulen (Arztpraxis oder Krankenhaus) versorgt
werden können, letztlich auf den Rettungsdienst angewiesen sind.
Damit erklärt sich auch, dass die steigende Nachfrage der Bevölkerung nach - aus der
individuellen Sicht - dringlichen medizinischen Dienstleistungen ebenso zu einer
steigenden Inanspruchnahme des Rettungsdienstes führt, wie bei den anderen Säulen
der notfallmedizinischen Versorgung.1
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass sich die Fachleute einig sind, dass der Anstieg der
Einsatzzahlen im Rettungsdienst im Wesentlichen durch nicht unmittelbar
lebensbedrohliche Erkrankungen ansteigt.
1
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/notaufnahmen-lange-wartezeiten-anspruchsvolle-patienten-a1116540.html
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Die stärkere Inanspruchnahme des Rettungsdienstes führt dabei zu einer stärkeren
Auslastung der vorhandenen Einsatzmittel und das hat Auswirkungen auf die
Hilfsfristen im Rettungsdienst.
3. Im öffentlichen Fokus - Hilfsfristen im Rettungsdienst
In den letzten Jahren rückten die Hilfsfristen im Rettungsdienst durch Medienberichte
immer mehr in den Blickwinkel der Öffentlichkeit. Der Berichterstattung ist dabei häufig
zu entnehmen, dass es den Rettungsdiensten immer seltener gelingt, Hilfsfristen von
z.B. 8 oder 12 min einzuhalten. Die Schlussfolgerung, die sich daraus aufdrängt ist,
dem Bürger wird immer später geholfen, möglicherweise können Verletzungen sich
dabei verschlimmern, oder sogar Menschen sterben, die nicht rechtzeitig, z.B. nach
einem plötzlichen Kreislaufstillstand, erreicht werden können.
Aus diesem Grund ist eine intensivere Beschäftigung sowohl mit der
„rettungsdienstlichen Hilfsfrist“ als auch mit dem Gesamtsystem „Rettungsdienst“
erforderlich, um den Zusammenhang zwischen Hilfsfristerreichungsgraden, den damit
möglicherweise verbundenen Auswirkung auf die Gesundheit von Bürgerinnen und
Bürgern, sowie die Ursachen für die Hilfsfristproblematik besser bewerten und auch
lösen zu können.
Der Begriff „Hilfsfrist“ bedeutet für den Rettungsdienst eine Planungsgröße, die ein
Schutzziel für die Bevölkerung bildet, wie lange der einzelne Bürger warten muss, bis
der Rettungsdienst ihn nach dem Notruf über die 112 erreicht. Hilfsfristen bilden die
Grundlage für die Standortplanung von Rettungsmitteln und ihrer Anzahl. Für das
Schutzziel wird die Hilfsfrist üblicherweise in Minuten und mit ihrem Erreichungsgrad (=
Qualität) angegeben. Beispielweise 8 min in 90% aller Fälle. In einigen Bundesländern
ist die Hilfsfrist in den Landes-Rettungsdienstgesetze enthalten, in anderen in
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Landesplänen oder in kommunalen Rettungsdienstbedarfsplänen. Die Überwachung
ihrer Einhaltung ist heute durch die elektronischen Hilfsmittel einfacher geworden.
3.1. Steigende Einsatzzahlen durch nicht-lebensbedrohliche Notfälle
Die notfallmedizinische Fokussierung auf die echten schwerwiegenden und
zeitkritischen Notfälle und Unfälle verstellt den Blick auf die andere, tatsächlich stark
steigende Gruppe von Menschen, zu denen der Rettungsdienst eilt. Es sind die
Patienten, die keine lebensbedrohliche Erkrankung aufweisen, sondern einfachere
Erkrankungen bis hin zur Bagatellerkrankung oder völlig andere, nicht-medizinische
Probleme, bei denen immer wieder auch andere Faktoren (z.B. Singlehaushalt,
Hilflosigkeit, Armut, Sprachbarrieren, persönliche oder familiäre Krisen, etc.) Auslöser
für einen Rettungseinsatz sind, weil es eben keine Alternative zu dem niederschwellig
verfügbaren (Notruf 112) und zum rasch reagierenden Rettungsdienst gibt.
Betrachtet man die Häufigkeit der echten zeitkritischen Notfälle, so wird von vielen
Fachleuten berichtet, dass ihre Anzahl in den letzten Jahren nicht angestiegen ist,
sondern in etwa gleichbleibt (Schwerstverletzte, Herzinfarkte), oder sogar sinkt (z.B.
Wiederbelebungen) (Lechleuthner 2015). Lediglich bei den eventbezogenen Einsätzen
(Intoxikationen, kleinere Verletzungen) gibt es zumindest in Ballungszentren einen
Anstieg, wenngleich aufgrund der spezifischen Auswerteroutinen, die dafür erforderlich
sind, genauere Zahlen schwierig beschaffbar sind.
3.2. Zeit – was bedeutet sie für die Rettung ?
Wenn eine Person, z.B. durch einen akuten Herzinfarkt, einen plötzlichen
Kreislaufstillstand erleidet, beginnt ab dem Zusammenbruch die Überlebens-Uhr zu
ticken. Kommt die Hilfe in 5 min, überleben etwa noch die Hälfte dieser Menschen,
kommt sie in 8 min, sind es weniger als 10% und kommt sie später, ist das folgenlose
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Überleben die Ausnahme. Nach einer erfolgreichen Wiederbelebung im Rettungsdienst
muss der Patient in einer geeigneten Klinik weiterbehandelt werden. Auch die
Möglichkeiten und Erfahrung in dieser Weiterbehandlungskette hat Einfluss auf das
Überleben (Scholz et al. 2017). Bis heute gilt, dass sich in großstädtischen Bereichen,
bei bis zu 50% der vor Ort wiederbelebten Patienten ein Kreislauf wiederherstellen läßt,
jedoch letztlich nur wenige Patienten dieses Ereignis definitiv überleben. Die aktuelle
Auswertung des Deutschen Reanimationsregisters zeigt, dass in Deutschland derzeit
das Überleben nach einer Reanimation seit Jahren bei rund 12 % verharrt (Gräsner et
al. 2017).
Erleidet eine Person einen Schlaganfall durch einen Blutpfropf, sollte sie so schnell wie
möglich eine differenzierte Hirndarstellung (z.B. CT mit Kontrastmittel, MRT) erhalten,
um das Problem zu erkennen und die geeigneten Maßnahmen dafür einzuleiten. Das
sollte alles innerhalb von 4,5 h erfolgen.2 Beim akuten Herzinfarkt werden heute 120
min bis zur Wiedereröffnung des verschlossenen Gefäßes mittels Herzkatheter als
Zeitfenster angegeben3, beim Schwerverletzten sollte nicht länger als 1 h vergehen, bis
er bei der definitiven Versorgung in einem geeigneten Traumazentrum ankommt4.
Das bedeutet, dass die Zeit zwischen dem notfallursächlichen Ereignis und der
definitiven Hilfe bei etlichen Notfallarten eine kritische Rolle spielt und ihr damit eine
hohe Bedeutung zukommt.
2
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-046.html
3
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie:
http://leitlinien.dgk.org/files/2014_Empfehlungen_zur_Organisation_von_Herzinfarktnetzwerken.pdf
4
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie: http://www.dguonline.de/fileadmin/published_content/5.Qualitaet_und_Sicherheit/PDF/20_07_2012_Weissbuch_Schwerverletzt
enversorgung_Auflage2.pdf
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3.3. Eine im Prinzip gleichbleibende Zahl von zeitkritischen Notfällen und eine
gleichzeitig stetig steigende Zahl von Rettungseinsätzen – wie passt das zusammen?
Die erste Frage ist, was sind das für Einsätze, die zwar zahlenmäßig ansteigen, die
aber keine zeitkritischen Notfälle sind ?
Aufgrund der dafür schwachen Datenlage bleibt lediglich die Beschreibung einzelner,
typischer Einsatzsituationen in Verbindung mit den dazu gehörigen
Rahmenbedingungen, die nachvollziehbar machen, warum es in diesen Fällen zu
einem Hilfeersuchen an den Rettungsdienst gekommen ist.
Beispiele:
Ein 80ig jähriger Mann, der in einem Singlehaushalt wohnt, mit einer
vorbestehenden chronischen Lungenerkrankung, bekommt eine saisonale
Grippe, die aufgrund seiner Vorerkrankung für ihn bedrohlich wird, so dass er
sich auch nicht mehr selbst versorgen kann.
Eine 30 jährige Büroangestellte, die aufgrund von Kreislaufproblemen im Büro
sich plötzlich wegen Schwindel hinlegen muss. Die Kollegen machen sich sorgen
und rufen den Rettungsdienst.
Eine 50ig jährige, die sich in der Küche in den Finger schneidet und der dann
„schwarz vor Augen“ wurde.
Der Jugendliche, der in der Sporthalle den Fuß umknickt hat und der dann
anschwillt und nur noch humpeln kann.
Der 70ig jährige, der schon zwei Herzinfarkte hatte und jetzt einen Druck auf der
Brust verspürt, der schon wieder weg ist, als das Rettungsteam eintrifft.
Der 25 jährige Drogensüchtige, der eine Entzündung am Bein hat und ins
Krankenhaus möchte, aber dem das Geld für ein Taxi fehlt,
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die 80 jährige, die mehrmals täglich Blutdruck misst und plötzlich bei einem
oberen Wert von 180 mmHg Panik bekommt.
Dies alles sind Rettungseinsätze, die über die Notrufnummer 112 gemeldet werden
und die letztlich zu einem Notfalleinsatz führen. Alle hier genannten Beispiele haben
eine wesentliche Gemeinsamkeit. Sie müssen aus medizinischer Sicht nicht innerhalb
von z.B. 8 min bedient werden, um eine bedrohliche Verschlimmerung zu verhindern,
oder sogar das Leben der Betroffenen zu retten. Im Ergebnis wird jedoch das
Rettungssystem dadurch in Anspruch genommen und die Auslastung der Einsatzmittel
erhöht.
Eine steigende Inanspruchnahme des Rettungsdienstes führt allerdings zu einer
Verschlechterung der Eintreffzeit und damit zu abnehmenden Erreichungsgraden der
Hilfsfrist beim Patienten.
Dieser Verschlechterung der Eintreffzeiten kann man auf mindestens zwei Wegen
entgegenwirken:
Lösungsansatz 1: Die Anzahl der Rettungsmittel, die hilfsfristbasiert stationiert sind,
wird erhöht.
Lösungsansatz 2. Die Leitstelle, in der die Notrufnummer 112 aufläuft, differenziert die
Anrufe nach Dringlichkeit.
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4. Diskussion Lösungsansatz 1 – Erhöhung der Anzahl hilfsfristbasiert
stationierter Rettungsmittel
Bei diesem Ansatz reicht es, die Gesamtzahl der Notfälle in die
Rettungsdienstbedarfsplanung einfließen zu lassen und die zusätzliche Anzahl an
Rettungsmitteln daraus risikoabhängig zu berechnen und zu stationieren.
Auf den ersten Blick scheint diese Aufgabe relativ einfach zu lösen. Nach der
Neuberechnung im Rettungsdienstbedarfsplan werden die zusätzlich erforderlichen
Einsatzmittel (RTW, NEF) beschafft und dort stationiert, wo sie gebraucht werden und
zur Verbesserung der Hilfsfrist beitragen.
Allerdings stehen diesem einfachen Lösungsansatz zahlreiche Hindernisse entgegen.
4.1. Erforderliche Neubauten
Die Anzahl der Notrufe in einem Gebiet korrespondiert mit der dortigen
Besiedelungsdichte. Werden Rettungsfahrzeuge hilfsfristbasiert in einem
dichtbesiedelten Gebiet stationiert, werden dafür Neubaumaßnahmen erforderlich. Zum
einen sind Grundstücke für einen geeigneten, hilfsfristgerechten Standort selten und
zum anderen sehr teuer. Hinzu kommen Auflagen bei der Baugenehmigung und ggf.
Widerstände aus der Bevölkerung. So konnten drei neue Standorte im
Rettungsdienstbedarfsplan Köln aus dem Jahr 2010 erst 2016 und 2017 umgesetzt
werden. So lange haben Grundstückssuche, Bauanträge und die Umsetzung gedauert.
Etwas einfacher ist die Aufstockung auf vorhandenen Wachen, wenn der Platz dort
ausreicht. Aber auch dort sind Baumaßnahmen nicht von heute auf morgen möglich. Im
Ergebnis bleibt damit die Schieflage, dem Nicht-Erreichen der Schutzziele über Jahre
bestehen, ohne dass ihr wirksam abgeholfen werden kann.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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4.2. Bestehender Fachkräftemangel
Ein umsetzungshemmender Faktor für die Aufstockung von Rettungsmitteln ist der
bereits bestehende massive Fachkräftemangel im Bereich der qualifizierten
Einsatzkräfte. Die Umstellung der Fachkräfte von Rettungsassistent (Ausbildungsdauer
offiziell 2 Jahre, stand aber dem Rettungsdienst als voll einsetzbare 2. Kraft bereits
nach weniger als 1 Jahr zur Verfügung). Der angehende Notfallsanitäter
(Ausbildungsdauer offiziell 3 Jahre) steht dem Rettungsdienst voraussichtlich erst ab
dem 2. oder 3. Jahr voll einsetzbar zur Verfügung. Hier entsteht eine Lücke. Des
Weiteren bestehen noch teilweise Probleme bei den Ausbildungskapazitäten, da diese
für das Berufsbild Notfallsanitäter aufgebaut werden müssen. Der Markt an verfügbaren
Fachkräften ist bundesweit lehrgefegt. Es ist fraglich, ob sich bei einem weiteren
Ausbau des Rettungsdienstes, die zusätzlich notwendigen Fachkräfte
(Rettungsassistenten und Notfallsanitäter) über finden werden.
4.3. Mitarbeiterbelastung
Neben den Wechselschicht-Dienstplänen in der Notfallrettung und der körperlichen
Beanspruchung durch das Tragen von Patienten, gibt es weitere Belastungen für das
Einsatzpersonal. Die Einsatzfahrten mit Sondersignalen, womit sich die Einsatzkräfte
durch den Verkehr kämpfen, sind weitere Stressoren. Auch die Alarmierungen des
Rettungsdienstes zu immer weniger dringlichen medizinischen Hilfeleistungsersuchen,
führen bei dem eingesetzten Personal zu einer immer stärkeren psychischen Belastung.
Überspitzt dargestellt sind die Ausbildung und die Ausrüstung auf lebensrettende
Einsätze ausgelegt. Die konkrete Inanspruchnahme erfolgt jedoch zu einem hohen
Prozentsatz für Bagatellen. Hier entsteht eine auseinandergehende Schere zwischen
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Anspruch und Wirklichkeit. Die Einsatzkräfte reagieren dabei mit steigendem
Unverständnis auf die zunehmenden Banaleinsätze, wie kleinere Schürfwunden,
Befindlichkeitsprobleme, etc., die sie in der Regel bei den Anrufern als eine Unfähigkeit
das eigene Leben zu organisieren interpretieren. An der Einsatzstelle finden sie dann
Patienten vor, deren medizinische Probleme möglicherweise vielschichtig, aber eben
nicht zeitkritisch sind. Dieses hohe Delta zwischen der eigenen Belastung und den
vorgefundenen Problemen führt dazu, dass zunehmend die Sinnhaftigkeit der eigenen
Tätigkeit hinterfragt wird, was letztlich zu einer geringeren Arbeitszufriedenheit bis hin
zu psychischen Problemen, Burn out oder zum Berufswechsel führen kann. Hohe
Ausbildungsaufwendungen und ein kurzer und damit nicht nachhaltiger Verbleib im
Beruf, können die Besetzung der Rettungsmittel mittel und langfristig gefährden. Hinzu
kommt die deutlich erhöhte Unfallgefahr, die durch Sonderrechtsfahrten (Blaulicht und
Martinshorn) entsteht und zwar sowohl für das Rettungsdienstpersonal selbst als auch
für andere Verkehrsteilnehmer.
4.4. Nachteil – steigende Kosten denen kein medizinischer Nutzen gegenübersteht
Auf der Basis der Beobachtungen und Berichte, dass der Anteil nicht-dringlicher
medizinischer Hilfeersuchen den wesentlichen Anteil an den beständig ansteigenden
Einsatzzahlen im Rettungsdienst ausmacht, ist festzustellen, dass den Investitionen in
die hilfsfristbasiert-basierte Stationierung von Rettungsmitteln, die nur wegen der
steigenden Einsatzzahlen notwendig werden, kein medizinischer Nutzen gegenüber
steht und damit unwirtschaftlich ist. Damit das nicht falsch verstanden wird, eine
Reaktion auf die Hilfeersuchen mit einem geeigneten und ausreichenden System ist
notwendig, ein undifferenzierter Aufbau von hilfsfristgestützten Rettungsmitteln
aufgrund steigender Einsätze ohne zeitkritische Notfallsituationen jedoch nicht.
Gleichwohl gibt es nach wie vor Gebiete, in denen neue Rettungswachen eingerichtet
werden müssen, damit die planerische Hilfsfrist in Notfällen auch erreicht werden kann.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Weiter unstreitig ist die notwendige, kontinuierliche Verbesserung des bestehenden
Systems hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit und seines Einsatzwertes.
4.5. Vorteil und Sicherheit des Lösungsvorschlags 1
Belässt man die Einsatzmittelkette (RTW, NEF) für alle Notrufe, entfällt die
Notwendigkeit in der Leitstelle, eine intensivere Differenzierung vorzunehmen, weil
damit eben nur die zwei bisherigen, verfügbaren Reaktionsmöglichkeiten vorhanden
bleiben. Das derzeitige System beinhaltet eine hohe Sensitivität, durch die das Risiko
für Fehlentscheidungen minimiert wird. Wird jeder Anruf mit der Entsendung eines
hochgerüsteten Einsatzmittels und Sonderrechten beantwortet, bleibt eben das Risiko,
dass eine „Unterschätzung“ vorgenommen worden ist, klein. Eine Umstellung auf ein
differenzierteres Versorgungssystem mit verlängerten Einsatzzeiten (= nichthilfristbasiert) würde bedeuten, dass dafür erstens ein Konzept entwickelt werden muss
und zweitens dass die Leistelle und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dafür geschult
und abgesichert werden müssen.
4.6. Zusammenfassende Bewertung des Lösungsansatzes 1
Bei der unveränderten Strategie, alle Hilfeersuchen über die Notrufnummer 112 auch
mit einem Rettungsmittel mit Einhaltung der Hilfsfrist zu bedienen, erfordert bei einer
steigenden Anzahl der Hilfeersuchen eine Aufstockung der rettungsdienstlichen
Einsatzmittel (RTW, NEF). Diesem Automatismus stehen zahlreiche Hindernisse
entgegen. Unter Anerkennung der These, dass die zeitunkritischen Hilfeersuchen
ansteigen, bedeutet der unkritische Ausbau der hilfsfristgestützten rettungsdienstlichen
Ressourcen, dass ihnen unter der Prämisse „so schnell wie möglich“ kein medizinischer
Nutzen entgegensteht. Hinzu kommt, dass schon jetzt an einigen Stellen der Ausbau
der hilfsfristgestützten Rettungsmittel durch langwierige Baumaßnahmen und durch
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Fachkräftemangel an seine Grenzen stößt. Hinzu kommt ein Anstieg der Unfallgefahren
durch die steigenden Eingriffe in den Straßenverkehr mit Sonderrechtsfahrten, die
nachweislich ein höheres Unfallrisiko für die Besatzungen und andere
Verkehrsteilnehmer birgt. Bislang wenig adressiert wurden auch die Belastungen der
Einsatzkräfte durch hohe Auslastung und Stressbelastungen der Einsatzfahrten, die zu
medizinisch wenig-dringlichen Hilfeersuchen entsandt werden.
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass ein weiterer Ausbau des ausschliesslich
hilfsfristbasierten Notfallrettungssystems bei akutem Fachkräftemangel und baulichen
Beschränkungen mit großer Wahrscheinlichkeit mit den steigenden Einsätzen nicht
mehr wird mithalten können. Eine Verlängerung der Hilfsfristen mit späterem Eintreffen
am Notfallpatienten wird die Folge sein.
5. Diskussion Lösungsansatz 2 - Die Leitstelle differenziert die Anrufe nach
Dringlichkeit
Der Lösungsansatz 2 basiert auf der These, dass der Anteil an nicht-dringlichen
Anrufen bei der Notrufnummer 112 ansteigt und die lebensbedrohlichen Notfälle und
Unfälle demgegenüber im Wesentlichen gleich bleiben. Damit stellt sich als weitere
Frage, ob die Priorisierung (z.B. Fahrt mit oder ohne Sondersignal) mit dem
vorhandenen Fahrzeugbestand (z.B. RTW und NEF) durchgeführt werden soll oder ein
gestuftes Versorgungskonzept aufgebaut bzw. organisiert werden muss. Ein
wesentliches Ziel wäre dabei, die weniger dringlichen Hilfeersuchen auf andere
Einsatzmittel zu disponieren, so dass die Notfallrettungsdienst-Ressourcen (NEF, RTW,
RTH) für die lebensbedrohlichen Notfälle und Unfälle auch zur Verfügung stehen. Das
bedeutet, dass dafür Einsatzmittel mit einem anderen Einsatzwert definiert und
aufgebaut werden müssen, so dass daraus ein gestuftes Versorgungssystem im
Rettungsdienst entsteht.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
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Bei der Frage nach einem gestuften Versorgungssystem steht an erster Stelle, was für
Systeme bereits vorhanden sind und wie sie genutzt werden können.
5.1. Rettungsdienst mit RTW und Notarzt (NEF, RTH)
Die Entsendung eines Rettungswagens mit oder ohne Notarzt ist das derzeit
praktizierte System. Die Stationierung zumindest der RTWs erfolgt dabei hilfsfristbasiert und ermöglicht damit die Gewährleistung eines Schutzziels, in der Regel 8-12
min für das ersteintreffende Rettungsfahrzeug.
5.2. Rettungsdienst mit qualifiziertem Krankentransport (KTW)
Der Krankentransport ist in den meisten Bundesländern ein Teil des öffentlichen
Rettungsdienstes und kann von der Leitstelle auch disponiert werden (organisatorischer
Bestandteil des Rettungsdienstes!). Schon jetzt wird er vielerorts als Rückfallebene für
die Notfallrettung genutzt, wenn alle RTWs im Einsatz sind. Konsequent genutzt als
„Notfall-KTW“ wird er bereits für einfachere Notfälle sowohl in Berlin als auch in anderen
Rettungsdienstbereichen. Insofern könnte ein Teil der Hilfeersuchen über die 112 auch
durch KTWs bedient werden. KTWs benötigen weniger qualifiziertes Personal (in der
Regel Rettungssanitäter und Rettungshelfer) als die Notfallrettung, allerdings müssten
die Ausrüstung angepasst und ein konkretes Triagierungskonzept für die Leitstelle
entwickelt werden. Im Ergebnis wird ein KTW jedoch die Patienten immer transportieren
müssen, um sie einem Arzt vorzustellen. Bereits früher wurde zwischen „disponiblem
Krankentransport“ und „dringlichem Krankentransport unterschieden.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
18
5.3. Vergabe an die II. Säule der Notfallversorgung – die niedergelassenen Ärzte
Schon jetzt wird immer wieder gefordert, daß mehr nicht-dringlich erkrankte Patienten,
die derzeit die Notaufnahmen von Krankenhäusern aufsuchen oder den Rettungsdienst
in Anspruch nehmen, durch das System der niedergelassenen Ärzten, die den
gesetzlichen Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung der (gesetzlich
krankenversicherten) Bevölkerung inne haben (§ 75 SGB V), versorgt werden sollen.
Um eine mögliche Verbesserung der Zusammenarbeit oder „Verzahnung“ von
Rettungsdienst (3. Säule) und niedergelassenen Ärzten (2. Säule) auszuloten, müssen
zunächst die Rahmenbedingungen des niedergelassenen Vertragsarztsystems näher
beleuchtet werden.
Die Organisation dieser II. Säule der notfallmedizinischen Versorgung besteht aus den
dezentral lokalisierten Praxen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die tagsüber
von den Patienten individuell ausgewählt und aufgesucht / angerufen werden müssen.
Hier gibt es keine einheitliche „Leitstelle“ oder Telefonzentrale, die dem Anrufer den
Kontakt erleichtert. Eine solche zentrale Anlaufstelle gibt es erst nach Praxisschluss,
sowie an Samstagen, sowie Sonn- und Feiertagen. Die zentrale Rufnummer dieser
Arztrufzentrale oder ist bundesweit die 116 117
(http://www.116117info.de/html/112.php). Außerhalb der regulären Praxiszeiten
organisieren die Kassenärztlichen Vereinigungen, in denen die Vertragsärzte Mitglied
sind, einen Notdienst. Dieser besteht aus Ärztinnen und Ärzten, die sich entweder in der
eigenen Praxis oder (zunehmend) in zentralen Notdienstpraxen aufhalten und von
Patienten aufgesucht werden können. Immer häufiger sind diese zentralen
Notdienstpraxen an Krankenhäusern angesiedelt.5 Die Ärzte dort, oder auch ein
zusätzlicher Hausbesuchsdienst, führen in der Notdienstzeit Hausbesuche bei
5
Auf die Funktion einer Portalpraxis
(https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2015/khsg-bt-23-lesung.html) wird an
dieser Stelle nicht weiter eingegangen.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
19
Patienten durch. Erwähnenswert ist noch, dass es ergänzend zum allgemeinen
Notdienst auch einen fachärztlichen Notdienst (z.B. Kinderärztlichen Notdienst) gibt.
Tagsüber ist der niedergelassene Vertragsarzt verpflichtet, Hausbesuche
durchzuführen. Hat der Patient einen niedergelassenen Arzt tagsüber ausgewählt und
erreicht, bedeutet das allerdings nicht, dass dieser sofort die Praxis verlassen und einen
Hausbesuch z.B. in 5 km Entfernung durchführen kann. Zum einen sind diese tagsüber
meist hoch frequentiert und zum anderen haben sich die Vergütungsstrukturen in den
niedergelassenen Praxen in den letzten 20 Jahren stark verändert. Die
Vergütungsstruktur des niedergelassenen Arzt bedeutet, dass er im Prinzip eine Art
Fließbandversorgung machen muss, um seine Aufwendungen für Praxis und Personal
refinanzieren zu können. Diese Veränderungen sind langsam und schleichend von
statten gegangen und haben im Ergebnis dazu geführt, dass während der Praxiszeiten
Hausbesuche nur bei ganz bestimmten, in der Regel seltenen Ereignissen möglich sind.
Patienten und ihre Angehörigen möchten bei akuten Symptomen allerdings nicht mehr
stundenlang auf einen Hausbesuch warten, auch wenn die Wartezeit medizinischobjektiv möglich und vertretbar wäre.
Eine Übergabe von Hilfeersuchen an niedergelassene Ärzte ist tagsüber problematisch
(an wen ?, es gibt keine zentrale Koordinierungsstelle) und die Übergabe ausserhalb
der Sprechstundenzeiten an den Notdienst über die Telefonnummer 116117 ist für die
Leitstellen gelebte Praxis bei eindeutigen Bagatellerkrankungen. Bei sogenannten
„Akutfällen“ (siehe unter 5.4.), ist das jedoch kaum vertretbar, da mit der
organisatorischen Übergabe für den Rettungsdienst ungewiß bleibt, wann der
Hilfeersuchende – der ja die Notrufnummer 112 gewählt hat – letztlich erreicht wird, vor
allem auch, weil den niedergelassenen Ärzten die Instrumente der rettungsdienstlichen
Gefahrenabwehr (Sonderrechtsfahrzeuge, Ausstattung, Personal, etc.) fehlen.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
20
5.4. Der „Akutfall“ eine neue Patientengruppe ?
Es gibt eine stark wachsende Patientengruppe im Rettungsdienst (Lechleuthner 2015),
die früher sehr viel kleiner war¸ die sogenannten „Akutfälle“. Diese Akutfälle, auch als
„Notsituationen“ bezeichnet, wurden bereits in den 90iger Jahren sowohl von Ahnefeld
(Ahnefeld et al.,1998) als auch von Sefrin (Sefrin 1994) beschrieben und gegenüber
dem „Notfall“ (-patienten) abgegrenzt. Unter Akutfällen bzw. Notsituationen wurden
damals alle Erkrankungen und Verletzungen „ohne primäre Vitalbedrohung“
zusammengefasst. Sie wurden als „lokalisierte pathologische Geschehen ohne vitale
Bedrohung, allerdings mit der Gefahr zusätzlicher örtlicher oder allgemeiner
Schädigung“ bezeichnet (Ahnefeld et al.1998). Beispielhaft wurden akut einsetzende
Geschehen wie Gallenkoliken oder sich akut verschlimmernde chronische
Erkrankungen wie die Hypoglykämie genannt. Ebenso wurden einfache Frakturen und
Luxationen darunter subsumiert.
Sowohl Ahnefeld et al. als auch Sefrin haben die Versorgungszuständigkeit für diese
Gruppe allerdings dem vertragsärztlichen Versorgungsauftrag („Kassenärztlichen
Notdienst“) zugeordnet, also ausserhalb des Rettungsdienstes.
Diese Gruppe der „Akutfälle“ stellt sich in Verbindung mit den heutigen
Rahmenbedingungen jedoch anders dar, sie wird immer mehr zu einem
Massenphänomen. Eine Erklärung dafür kann sein, dass mit zunehmend längerem
Lebensalter der Anteil an Menschen darin ansteigt, die bereits akute Erkrankungen
(z.B. Schlaganfall, Herzinfarkt, AVK, etc.) überlebt haben, so dass
Erkrankungssymptome mit einer akuten Komponente (z.B. Druckgefühl in der Brust,
Pochen im Kopf, plötzlicher Blutdruckanstieg mit Missempfindung, etc.) dafür sprechen
können, dass es sich hier wieder um eine bereits ein- oder mehrmals durchlebte und
überlebte Notfallerkrankung handelt. Zu dieser Gruppe zählen ebenfalls Patienten mit
parallel bestehenden, chronischen Erkrankungen (z.B. Diabetes, COPD,
Herzinsuffizienz, etc.), die zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung von an sich gut
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
21
ambulant behandelbaren Erkrankungen, führen können. Ebenso können in diese neue
Gruppe Senioren eingereiht werden, die erkrankt sind und dabei nur mit vorhandener
Versorgung, auch zu Hause bleiben können.
In dieser wachsenden Gruppe von „Akutfällen“ müssen die akuten Symptome jedoch oft
aufwändig abgeklärt werden. Hier reicht es (heute) dann eben nicht mehr nur einen
Hausbesuch zu machen, zu untersuchen und abzuhören, und etwas zu verschreiben,
sondern hier kann auch ein (kurzer) Krankenhausaufenthalt zur Abklärung oder auch
zur Versorgung (viele Gründe sind hier möglich, u.a. weil sie alleine wohnen) notwendig
werden.
Diese Akutfälle haben allerdings eines gemeinsam, sie können nicht mehrere Stunden
oder halbe Tage warten, bis sie Hilfe erhalten. In der derzeitigen Versorgungslandschaft
gibt es aber nur die Möglichkeit den Rettungsdienst (Reaktionszeit wenige Minuten)
oder den niedergelassenen Arzt (Reaktionszeit mehrere Stunden, von Einzelfällen
abgesehen) zu erhalten. Dazwischen gibt es eine Versorgungslücke, die bereits früher
thematisiert wurde (Lechleuthner 2015).
Diese Lücke in der Versorgung von Akutpatienten wird derzeit durch den
Rettungsdienst gefüllt. Das macht auch Sinn, da nur die wenigsten dieser Akutfälle zu
Hause vollständig nach dem aktuellen Stand der Technik abgeklärt werden können und
einer weiteren Diagnostik und ggf. Versorgung bedürfen.
5.5. Abgrenzung von Notfall- und Akutpatienten unter dem Gesichtspunkt der
Gefahrenabwehr – Vorschlag einer Klassifizierung
Die Einordnung der Verletzungen in die Akutfälle, wie sie Ahnefeld et al. (Ahnefeld
1998) vorgenommen haben, ist jedoch problematisch. Betrachtet man die beiden
Gruppen (Notfall- und Akutpatienten) im Lichte der Gefahrenabwehr zeigt, ist
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
22
festzuhalten, dass bei Notfallpatienten die Lebensgefahr bei Erkrankungen von innen
(Gefahr von innen) droht. Sie kann nur durch rettende notfallmedizinische Maßnahmen
abgewendet werden, was schnellstmöglich geschehen muss. Verletzungen geht in der
Regel ein Unfallgeschehen von aussen („Gefahr von aussen“) voraus. Diese äußeren
Gefahren können unter Umständen auch nach dem ersten Verletzungsgeschehen für
den konkreten Patienten oder auch für andere Personen fortbestehen, wenn man an
Einklemmungen, Brände, aber auch an Anschlags- oder Terrorlagen denkt. Das
bedeutet, dass zur Abwehr der äußeren Gefahren geeignete Abwehrmaßnahmen z.B.
der Feuerwehr (Brandbekämpfung, technische Hilfeleistung, CBRN, etc.) oder der
Polizei notwendig werden. Entstehen dabei lebensbedrohliche Verletzungen („Gefahr
von innen“) kann die dadurch auftretende Lebensgefahr ebenfalls nur durch eine
schnellstmögliche notfallmedizinische Versorgung vor Ort und ein schnellstmögliches
Verbringen zur definitiven Versorgung abgewendet werden. Sowohl die Lebensgefahr
durch Erkrankungen (Gefahr von innen) als auch durch Verletzungen (Gefahren von
außen und innen) von außen haben eines gemeinsam, dass sie schnellstmöglich
abgewendet werden müssen. Der Zeitfaktor spielt dabei neben den technischen und
medizinischen Ressourcen, eine überragende Rolle. In einer modernen und
wohlhabenden Gesellschaft ist es deshalb ein Sicherheitsfaktor, die Vorhaltung dieser
„Rettungsressourcen“ planerisch so vorzubereiten, dass durch vorgegebene
Eintreffzeiten ein definiertes Sicherheitsniveau entsteht.
Erkrankungen mit akuten Symptomen, von denen keine akute Lebensbedrohung
ausgeht, bei denen aber Abgrenzungsschwierigkeiten zu Notfällen bestehen, benötigen
notfallmedizinisch nicht die schnellstmögliche Hilfe, sie sollten aber auch nicht
stundenlang warten. Bei diesen „Akutfällen“ ist eine mögliche Verschlimmerung und
damit eine Lebensgefahr - zumindest bei einem telefonisch übermittelten Meldebild nicht definitiv ausschliessbar. Ihre Versorgung sollte deshalb ebenso in den Bereich der
Gefahrenabwehr einbezogen werden, wenngleich nicht mit der höchsten Dringlichkeit.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
23
Bleiben noch die einfachen Verletzungen, von denen keine Lebensgefahr ausgeht oder
zu befürchten ist. Auch ihnen geht in der Regel ein Unfallgeschehen (Gefahr von
außen) voraus. In Verbindung mit der Lokalisation (z.B. Öffentlichkeit, Strasse, Wald,
See, etc.) und weiter damit verbundenen äußeren Einflüssen (Temperatur, Regen,.
Schnee, Menschenmenge, etc.) müssen diese äußeren Gefahren ebenfalls
abgewendet werden, da verletzungsbedingt Hilflosigkeit bestehen kann, auch wenn die
notfallmedizinische Versorgung dabei weniger aufwändig und weniger dringlich ist als
bei lebensgefährlichen Verletzungen. Insofern ist auch die Versorgung einfacher
Verletzungen in Verbindung mit äußeren Gefahren durch Einsatzmittel der
Gefahrenabwehr abzuwehren und damit eine Aufgabe des Rettungsdienstes. Für diese
Patienten passt besser der Begriff der „Notsituation“, da er mehr die äußeren Gefahren
beschreibt und weniger die möglichen Verletzung(en).
5.6. Wie könnte bei diesen Rahmenbedingungen eine bessere Verzahnung zwischen
der 2. Säule (niedergelassene Ärzte) und der 3. Säule (Rettungsdienst) aussehen ?
Angesichts der großen Gruppe der „Akutfälle“ und den bisher gewachsenen
Praxisorganisations- und Finanzierungsstrukturen, sollte man sich keine Illusionen
machen, dass hier eine grundsätzliche Neuorganisation des niedergelassenen
Ärztesystems möglich sei. Den niedergelassenen Ärzten fehlen im Übrigen die
Instrumente und Ressourcen der Gefahrenabwehr, die auch schon bei einfachen
Verletzungen z.B. bei einem Unfall auf der Straße, notwendig sind. Einfacher und
schnittstellenärmer ist es deshalb, die Versorgung der Patienten mit Akutsymptomen
auch weiterhin beim Rettungsdienst zu belassen. Sie rufen ohnehin dort schon alle an.
Der Rettungsdienst könnte allerdings die „Patienten mit Akutsymptomen ohne
erkennbare Lebensbedrohung“ aus der hilfsfristbasierten Versorgung herausnehmen,
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
24
sie innerhalb eines bestimmten Zeitfensters (wichtig für die Bedarfsplanung!) erreichen
und der geeigneten Versorgung zuführen (Krankenhaus, Arztpraxis). Die
Versorgungsverpflichtung der niedergelassenen Ärzte für Patienten ohne
Akutsymptome bliebe dabei unberührt. Vorteilhaft wäre jedoch dabei eine verbesserte
Information und Abstimmung mit den Ärzten der hausärztlichen Versorgung, die bislang
z.B. kein Notfallprotokoll vom Rettungsdienst erhalten. Hier könnten Modellversuche
Aufschluss geben, was möglich ist.
5.7. Ist es schon jetzt möglich lebensbedrohliche Erkrankungen in der Leitstelle zu
erkennen und beschleunigt zu bearbeiten ?
Die Analyse der Einsatzzahlen in den Jahren 2014-2016 im Kölner Rettungsdienst
zeigt, dass über alle Notfallarten das Schutzziel 8 min in 90% der Fälle, nicht erreicht
werden konnte (Tabelle 1).
Erreichungsgrade
2014
2015
2016
1. Fahrzeug am Ort: Rettungswagen (RTW)
80,7%
80,5%
78,1%
89,4%
89,0%
90,1%
oder Notarzteinsatzfahrzeug (NEF)
Notarzteinsatzfahrzeug (NEF)
Tabelle 1: Erreichungsgrade der Notfalleinsätze im Kölner Rettungsdienst für die
Einsatzmittel Rettungswagen (Schutzziel 8 min in 90% der Einsätze) und
Notarzteinsatzfahrzeug (Erreichungsgrad „12 min in 90% der Einsätze). Grundlage der
Berechnung des Erreichungsgrades sind alle Einsatzfahrten.
Betrachtet man jedoch die Untergruppe der Wiederbelebungsfälle (Reanimationen) trifft
in Köln das erste Rettungsmittel im Durchschnitt bereits nach 5,5 Minuten ein, 8 min
werden, in 91,2 % dieser Fälle erreicht. Das bedeutet, dass in diesen konkreten Fällen
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
25
akuter Lebensgefahr alles mobilisiert wird, um die Eintreffzeit möglichst gering zu
halten.6
Die Auswertung dieser Untergruppe (Reanimationen) wurde möglich, weil der
Rettungsdienst Köln am „Deutschen Reanimationsregister“7 teilnimmt, an das die
teilnehmende Rettungsdienste ihre Wiederbelebungsfälle melden können. Aus den
Vergleichsdaten wird ein Benchmarking möglich, was das Verbesserungspotential für
die einzelnen Standorte aufzeigt.
Gerade mit Einführung der „Telefonreanimation“ in den Rettungsleitstellen bemühen
sich diese, reanimationspflichtige Patienten und Patienten zu identifizieren und
Angehörige über Telefon zur Reanimation anzuleiten. Bei einem derart identifizierten
Pateinten werden dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Patienten
schnellstmöglich zu erreichen. Grundsätzlich scheint also schon jetzt eine
Identifizierung und Priorisierung in der Leitstelle möglich zu sein. Insofern müssten
deshalb auch weitere Differenzierungen der Notrufe (112) realisierbar sein. Das
bedeutet, dass die dort tätigen Disponenten aus den Anrufen die zeitkritischen Notfälle
erkennen und weniger zeitkritische oder zeitlich unkritische Anrufe davon abgrenzen
können.
Zeitkritische Notfälle müssen dann so priorisiert werden, dass möglichst schnell das
geeignete Rettungsmittel dorthin entsandt wird, um Leben zu retten und schwere
gesundheitliche Schäden abzuwenden. Offen bleibt dabei jedoch noch die Frage,
welche Versorgungsdienste bzw. -stufen mit welcher Qualifizierung die neu
klassifizierten Hilfeersuchen bedienen.
6
Die derzeit möglichen und diskutierten ehrenamtlichen „Ersthelfersysteme“ wie „Mobile Retter“, „Helfer vor Ort,
First responder, etc. sollen an dieser Stelle nicht thematisiert werden.
7
Deutsches Reanimationsregister: https://www.reanimationsregister.de/home.html
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
26
5.8. Identifizierung, Triagierung und Priorisierung – Auswirkungen auf die Leitstelle
Die Hauptlast dieser Notruf-Differenzierung und -klassifizierung wird auf die
Rettungsleitstellen zukommen. Die Disponenten müssen dann sehr viel genauer
differenzieren. Zwar wurde genau das schon vor mehr als 20 Jahren gefordert (Rossi,
1994), jedoch wurde dies in der Praxis nur dort umgesetzt, wo auch die
Gesamtvoraussetzungen dafür vorhanden waren. Dominierend ist bis heute in der
Notfallrettung die Entsendung eines RTW (ggf. mit Notarzt). In einem differenzierten
System mit mehreren Entsendemöglichkeiten und Versorgungszeitfenstern, muß dann
tatsächlich triagiert und nach Zeitdringlichkeit priorisiert werden, um das
bedarfsgerechte Versorgungsmittel beauftragen zu können. Dabei wird es mehr
Fehlerquellen geben als bisher. Die Leistellenausbildung war bislang ein Stiefkind der
rettungsdienstlichen Ausbildungen. Im Wesentlichen hielt man die einsatzbezogene
Rettungsassistentenausbildung für die Tätigkeit als Disponent in einer Leistelle als
ausreichend. Mit dem Wegfall der Rettungsassistentenausbildung und dem Ersatz
durch die 3-jährige Notfallsanitäterausbildung ist hier erneut Bewegung entstanden,
eine bessere Leitstellenausbildung zu entwickeln und eben nicht mehr nur auf
einsatzbezogene Qualifizierungen zurückzugreifen. Gleichwohl wird neben der
besseren Ausbildung auch ein intensiveres Qualitätssicherungssystem notwendig
werden, um die Leistungsfähigkeit in dem neuen, anspruchsvolleren Aufgabenprofil des
Leitstellendisponenten, zu gewährleisten. Beispiel für erfolgreiche QS-Systeme im
Leitstellenbereich gibt es schon jetzt, wie z.B. das in Hessen seit langem etablierte
System der Rückmeldezahl.8
8
W. Lenz, M. Luderer, G. Seitz, M. Lipp: Die Dispositionsqualität einer Rettungsleitstelle
Qualitätsmanagement mit der “Rückmeldezahl”. Notfall- und Rettungsmedizin 3: 72-80 (2000).
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
27
5.9. Zusammenfassende Bewertung des Lösungsansatzes 2
Im Ergebnis scheint die Umsetzung des Lösungsansatzes 2 (Die Leitstelle, in der die
Notrufnummer 112 aufläuft, differenziert die Anrufe nach Dringlichkeit) mehrere
bestehende Probleme zu vermeiden, die im Lösungsansatz 1 erhalten blieben. Die
Senkung der Einsätze, auf die hilfsfristgestützt reagiert werden muss, in dem die über
die Notrufnummer 112 eingehenden Hilfeersuchen triagiert und priorisiert werden,
nimmt den Druck vom Rettungsdienstträger, beständig zusätzlich RettungsmittelSysteme unter dem Primat der einzuhaltenden Hilfsfrist aufzubauen. Die Anzahl der
Sonderrechtsfahrten wird dabei ebenso abnehmen, wie die damit verbundenen
Gefahren für den Verkehr. Letztlich wird auch die beschriebene Belastung der
Einsatzkräfte gesenkt werden können. Dafür können, insbesondere für erkennbare
Bagatellverletzungen, geringwertiger ausgestattete und niedriger qualifizierte Systeme
eingesetzt werden, was den Druck auf den Fachkräftearbeitsmarkt lindert. Allerdings
muss ein gut strukturiertes und differenziertes Versorgungssystem im Rettungsdienst
etabliert werden, das die Akutfälle fachgerecht versorgen kann. Zusätzlich muss die
Leitstelle speziell auf diese anspruchsvollen Differenzierungsaufgaben vorbereitet und
unterstützt werden. Hier können neu entwickelte technische Systeme ebenso
unterstützen, wie strukturierte Abfragesysteme. Nach der hier vertretenen Auffassung
ist der Lösungsansatz 2 dem Lösungsansatz 1 überlegen und sollte weiterverfolgt
werden.
6. Umsetzungsvorschlag – ein gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst
(GVS)
Den Ausgangspunkt für die Umsetzung bildet die Leitstelle, die die Anrufflut
neustrukturiert und der Neu-Klassifizierung gemäß dem Vorschlag in 5.5. auch eine
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
28
Priorisierung so zuordnet, daß sie die gewählten Ressourcen und das dafür
erforderliche Zeitfenster den tatsächlichen medizinischen Bedürfnissen entspricht. Dazu
gehört, dass Notfälle und Unfälle mit Lebensgefahr mit den hochqualifizierten und
ausgerüsteten Einsatzmitteln hilfsfristbasiert bedient und Akutfälle und Notsituationen
mit einer geringeren Dringlichkeit davon abgegrenzt werden.
6.1. Gestuftes Versorgungsystem im Rettungsdienst (GVS)
Der Vorschlag eines gestuften Versorgungssystems im Rettungsdienst (GVS) basiert
auf dem in 5. beschriebenen Lösungsansatz 2. Es stützt sich dabei auf die bereits
vorhandenen Komponenten im Rettungsdienst, was eine lineare Organisation, eine
einheitliche Bedarfsplanung und einheitliche Finanzierung ermöglicht. Das GVS wird
der rettungsdienstlichen Gefahrenabwehr zugeordnet, da neben der Erkrankung bzw.
Verletzung eine zusätzliche Gefahr (innere oder äußere) für den Patienten besteht. Das
GVS kann dabei anhand der in 5.5. vorgestellten Klassifizierung in eine Systematik der
Gefahrenabwehr gebracht und den einzelnen Stufen die erforderlichen Ressourcen der
Gefahrenabwehr zugeordnet werden (Tabelle 2).
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
29
Tabelle 2: GVS in der Systematik der Gefahrenabwehr
Bereiche
Gefahren
Gefahren
Mögliche
Ressourcen der
von innen
von außen
Gefahren
Gefahrenabwehr
Zeitfenster
von Innen
Notfälle mit
X
NEF, RTW, RTH
Lebensgefahr
Unfälle mit
Hilfsfrist 812 min
X
X
Lebensgefahr
NEF, RTW,
Hilfsfrist 8-
Feuerwehr,
12 min
Polizei
Notsituationen
X
(X)
Notfall-KTW
ohne Lebens-
Zeitkorridor
bis 20 min
gefahr
Akutfälle ohne
X
Lebensgefahr
NEF
Zeitkorridor
RTW mit ärztlicher
bis 60 min
Supervision
Ausgehend von dieser Klassifizierung kann daraus das Gestufte Versorgungssystem
(GVS) im Rettungsdienst entwickelt werden (Tabelle 3).
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
30
Tabelle 3: Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
Stufe
Medizinischer
Zusätzliche Gefahr
Sachverhalt
1
Dringlich-
Bedarfsgerechte
keit
Notfallversorgung
Maßnahmen
Reaktionszeit
zum Patienten
Lebensgefährliche
Gefahr von Innen
Sehr
Notfallrettung (=
Abwehr der
So schnell wie
Erkrankung
Lebensgefahr durch
hoch
NEF, RTH, RTW)
Lebensgefahr,
möglich
Erkrankung /
Lebensrettung,
(Hilfsfristbasierte
Verletzung
Herstellung der
Stationierung)
(Bei Reanimations-
Transportfähigkeit,
situation ggf.
Transport in eine
Ersthelfersystem)
geeignete
Einrichtung
2
Erkrankung /
Gefahr von Außen
Sehr
Notfallrettung +
Beseitigung der
So schnell wie
Verletzung /
durch Unfall,
hoch
Technische
äußeren Gefahr,
möglich
Vergiftung
Einklemmung,
Rettung
Medizinische
(Hilfsfristbasierte
Eingeschlossenheit,
Feuerwehr
Erstversorgung (ggf.
Stationierung)
CBRN, Wetter,
wie 1), Transport zur
Umgebung, Terror,
ggf. auch Polizei
Amok, etc.
Weiterbehandlung
oder in sichere
Umgebung
3
Erkrankung /
Gefahr von Außen
Verletzung /
durch Wetter,
fehlende
Umgebung, vor Ort
Autonomie in der
ohne gute Betreuung
Hoch
Notfallkranken-
Erstversorgung,
Zielkorridor bis 20
transport
Transport zur
min
weiteren
Öffentlichkeit
Auch hier hilfreich,
Untersuchung und
notärztliche
Abklärung
Supervision
4
Schwere
Mögliche Gefahr
Erkrankung oder
Erkrankung mit
Mittel
NEF (mit
Ärztliche
Zielkorridor bis 60
von Innen
Notärzten ggf.
Abklärung
min
Patient in
spezielles
erforderlich
Risikofaktoren /
geschützter
Arztfahrzeug) zur
Untersuchung,
Komorbidität
Umgebung
Abklärung und
Behandlung und
(Bauwerk) und / oder
Behandlung ggf.
Abklärung, ggf.
gute Betreuung vor
Einweisung in eine
Transport zur
Ort
geeignete
weiteren
Einrichtung
Untersuchung und
alternativ RTW mit
Abklärung
Notfallsanitäter
ggf. mit ärztlicher
Supervision
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
31
Diese Strukturierung berücksichtigt in abgestufter Weise die konkrete medizinische
Dringlichkeit und die zusätzlichen Gefahren. Aus diesen Gründen ist das GVS
rechtlich, organisatorisch und finanziell im Bereich des Rettungsdienstes angesiedelt.
Die in den Stufen 3 und 4 vorgeschlagene „ärztliche Supervision“ bedeutet, dass die
Einsatzkräfte vor Ort sich notärztlichen Rat („Telemedizin“) hinzuholen können.
Die beiden anderen Säulen der notfallmedizinischen Versorgung (Säule 1: Stationär
Krankenhaus, Säule 2: ambulant durch die Kassenärztlichen Vereinigung in Verbindung
mit den Vertragsärzten) sind davon völlig unberührt. Damit bleiben die
organisatorischen und finanziellen Zuständigkeiten und Strukturen vollständig erhalten
und unverändert. Das GVS liefert demzufolge auch keinen Lösungsbeitrag für die
Auseinandersetzungen zwischen der Säule 1 und Säule 2 um die Frage, wer und in
welchem Umfang für die ambulante Versorgung der Patienten zuständig ist und wie die
Finanzierung darin erfolgt.
Das GVS enthält mit seiner neuen Stufung mit den gelb klassifizierten Systemen
„Notfallkrankentransport innerhalb eines Zeitkorridors von 20 min“ und „Ärztliche
Abklärung innerhalb eines Zeitkorridors von 60 min“ eine neue Differenzierung und
sicher auch neue Diskussionen. Die vorgeschlagenen Zeitkorridore von 20 min bzw. 60
min werden aus den Erfahrungen mit der rettungsdienstlichen Bedarfsplanung
abgeleitet. Dort haben sich Zeitkorridore als Planungsgrößen bewährt, um ein
Versorgungssystem aufzubauen, zu unterhalten und anzupassen.
Der gelb klassifizierte Versorgungsbereich wird dabei dem Gefahrenabwehrbereich
zugeordnet, was sich aus den dabei vorhandenen „möglichen Gefahren“ von außen
oder innen ergibt.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
32
Der wesentliche Schritt mit Einführung eines GVS ist, dass ein Schritt aus der „Falle“
eines ausschließlich hilfsfristbasierten Notfallrettungssystem mit seinen hier skizzierten
vielfältigen Problemen heraus gewagt wird und ein möglicher Weg hin zu einer
bedarfsgerechten und bedürfnisorientierten Versorgung einer Gesellschaft
eingeschlagen werden kann, die sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert hat
und sich auch noch weiter verändern wird.
6.2. Mehr Patienten für den Rettungsdienst ?
Mit dieser Neustrukturierung entsteht die Frage, ob sich hier der Rettungsdienst eine
neue Patientengruppe erschließt, die eigentlich durch ein anderes System (z.B. die
ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärzte) versorgt werden müsste ?
Die Antwort darauf ist ein klares Nein. Die Patientengruppe der „Akutfälle“ wird hier
nicht zusätzlich vom Rettungsdienst erschlossen, sondern sie wird bereits jetzt von ihm
versorgt. Die Patienten bringen schon jetzt ihre Hilfeersuchen bei der Notrufnummer
112 an und werden schon jetzt mit den Mitteln des Rettungsdienstes versorgt. Eine
Identifizierung dieser Patienten und ein Verweis auf ein „zuständiges“ oder anderes
Versorgungssystem läuft derzeit praktisch ins Leere, weil es ein solches in der dafür
erforderlichen Auslegung und Kapazität nicht gibt.
6.3. Gibt es Hindernisse bei der Umsetzung eines GVS ?
Durchdenkt man die Umsetzung eines derartigen GVS, fallen einem – abgesehen von
allgemeinen Bedenken und Befürchtungen – auch weitere Hindernisse bei bestimmten
Vorgaben ein.
Beispiel 1: Einfache Krankentransporte und Krankenfahrten (keine Notfälle)
müssen vorab durch die Krankenkasse genehmigt werden (siehe § 9
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
33
Krankentransportrichtlinie des GBA). Dies führt derzeit dazu, dass ein nicht
unerheblicher Teil der üblicherweise mittels KTW zu einer Klinik oder einem Arzt
zu transportierenden Patienten mit einer akuten Erkrankung in die Notfallrettung
ausweichen.
Beispiel 2: Transporte durch den Rettungsdienst (Notfallrettung) werden gemäß §
60 Abs. 2 Nr. 2 SGB V nur zu Krankenhäusern von den Kostenträgern bezahlt. Ein
Transport z.B. in eine Arztpraxis gehört nicht dazu.
Eine ebenso große Herausforderung sind die Fälle, in denen Notfall-Krankentransporte
bei lebensbedrohlichen Notfällen oder Unfällen mit Schwerverletzten disponiert werden,
und das dort Einsatzpersonal die Notfallrettungsdienst-Ressourcen nachbestellen und
die Zeiten dazwischen überbrücken muss. Speziell diese Situationen haben in der
Vergangenheit dazu geführt, dass man von einem derart gestuften System
zurückgeschreckt ist, um möglichst keine derartigen Lücken systemisch anzulegen. An
dieser Stelle wird noch einmal die Rolle der Leitstelle deutlich, die diese
Entscheidungen trifft. Insgesamt wird das GVS auch mehr Qualitätssicherung erfordern,
um die Disposition und auch das Leistungsgeschehen des Rettungsdienstes zu
optimieren und weiterentwickeln zu können.
Ebenso herausfordernd wird die Frage sein, welches ärztliches Personal speziell für die
Stufe 4 herangezogen werden kann.
Lechleuthner A. – Gestuftes Versorgungssystem im Rettungsdienst (GVS)
34
7. Zusammenfassung und Ausblick
Mit den Vorschlägen für eine Neustrukturierung im Bereich des Rettungsdienstes mit
einem „gestuften Versorgungssystem im Rettungsdienst“ (GVS) soll eine Diskussion
angestoßen werden, den Rettungsdienst auf die sich ändernden Rahmenbedingungen
in der Gesellschaft anzupassen. Wie immer bei „Reformvorschlägen“ wird es natürlich
zahlreiche Diskussion, Befürchtungen und Widerstände geben. Der Beitrag bietet aber
auch Chancen für eine vorteilhafte Weiterentwicklung, mit vielen Aspekten, die auch
wissenschaftliche Untersuchungen anstoßen können.
Die Vorschläge ein GVS aufzubauen können im bestehenden System (3 SäulenSystem) mit Modellprojekten erprobt und untersucht werden.
Die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten und dem Rettungsdienst
ist ausbaufähig. Speziell die Akutfälle der Stufe 4 können von einer Abstimmung
mit den Ärzten der hausärztlichen Versorgung profitieren. Eine Neuorganisation
im Rettungsdienst kann hier auch der Startpunkt sein, diese Zusammenarbeit
weiter zu entwickeln.
Das GVS bietet den Anreiz ein neues Dokumentationssystem zu entwickeln, das
nicht nur rein „notfallzentriert“ ist, sondern auch die Gruppe der Akutfälle näher
beleuchten hilft (Vorerkrankungen, Lebenssituation, Autonomie, etc.) und damit
neue Erkenntnisse zum Versorgungsbedarf liefern kann.
Stimmen die vorgeschlagenen Zeitfenster in der Stufe 3 und 4 (gelb), oder gibt
es bessere dazu, die bedarfsgerechter sind.
Im organisierten Rettungsdienst können neue Möglichkeiten zur Abklärungen vor
Ort erprobt werden, die bislang nur in einer Klinik möglich waren (point-of-care
Diagnostik (Hahn et al. 2016), Ultraschall, Telemedizin, Infusionsbehandlung,
etc.). Ein Ziel dabei kann sein, den Patienten vor Ort zu belassen, wieder zu
besuchen, oder eine Versorgung zu organisieren.
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Speziell die Gruppe 4 gelb bietet die Möglichkeit zu untersuchen, welche
Unterschiede für eine Erstabklärung es mit rein arztgestützten Systemen und
alternativ mit Notfallsanitäter-Systemen mit telemedizinischer Unterstützung gibt.
Das kann gerade für dünn besiedelte Gebiete interessant sein.
Die Ausrüstung der Versorgungsmittel kann neu überdacht werden (z.B. NotfallKTW für Gruppe 3, NEF für Gruppe 4, etc.).
Für den Notfall-KTW können auch niedriger qualifizierte Helfer
(Rettungssanitäter, Rettungshelfer) eingesetzt werden und damit auch den
nebenamtlichen (z.B. Studenten) und ehrenamtlichen Helfern zugänglich bleiben.
Die neuen Dispositionsanforderungen in den Leitstellen müssen untersucht,
analysiert und verbessert werden. Daraus wird man auch den Schulungsaufwand
und –bedarf für das Leitstellenpersonal entwickelt bzw. optimiert werden.
Die Ansätze für die Qualitätssicherung eines derartigen Systems sind
umfassender und müssen auch in der Lage sein, Fehlentwicklungen zu
erkennen.
Selbstverständlich sind viele der hier gemachten Vorschläge für dieses GVS
grundsätzlich nicht neu, sondern zumindest in Teilen schon vor vielen Jahren erdacht,
diskutiert und an einigen Stellen bereits erprobt worden. Neu darin ist jedoch, dass die
einzelnen Elemente in ein gestuftes Gesamtsystem eingebaut sind und dass dies in der
3. Säule der Versorgung, dem Rettungsdienst, stattfindet. Damit bleiben Zuständigkeit,
Organisation und Finanzierung der anderen Säulen unberührt. Der dadurch
entstehende, wesentliche Vorteil ist, dass eben nicht mehr alle Hilfeersuchen
hilfsfristbezogen betrachtet werden und zeitkritisch bedient werden müssen. Dies sorgt
für eine Entspannung bei allen hilfsfristbasierten Aktivitäten einschließlich dem
Personalzusatz bei bestehendem Fachkräftemangel.
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Da es natürlich zahlreiche Aspekte auch dagegen gibt, die hier jetzt (noch) nicht
ausreichend thematisiert wurden, soll dieser Vorschlag eines GVS einen Beitrag zur
Weiterentwicklung des Rettungsdienstes liefern. Die Diskussion ist damit eröffnet.
Prof. Dr.med. Dr.rer.nat. Alex Lechleuthner
Technische Hochschule Köln
Institut für Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr
Campus Deutz
Betzdorferstr. 2
D-50679 Köln
Kontakt: alex.lechleuthner@th-koeln.de
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