Daten
Kommune
Kreis Euskirchen
Größe
387 kB
Datum
14.11.2012
Erstellt
12.11.12, 12:00
Aktualisiert
12.11.12, 12:00
Stichworte
Inhalt der Datei
Gesundheitsbericht
Sozialpsychiatrischer
Dienst
2
Kommunale Gesundheitsberichterstattung
im Kreis Euskirchen
September 2012
Bericht des Sozialpsychiatrischen Dienstes
der Abteilung Gesundheit
des Kreises Euskirchen
Herausgeber:
Kreis Euskirchen
Der Landrat
Abt. Gesundheit
3
Inhalt
1 Einleitung
1.1
1.2
3
Rechtsgrundlage
Zur aktuellen Situation des Sozialpsychiatrischen Dienstes
2 Die Aufgaben des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Euskirchen
4
4
4
6
2.1 Kernaufgaben
2.1.1
2.1.2
2.1.3
2.1.4
Krisenintervention nach PsychKG § 14
Vor- und nachsorgende Hilfe nach PsychKG §§7 und 27
Psychiatrische Begutachtung
Fachaufsicht
6
7
8
8
2.2 Wie werden die Hilfen angeboten?
2.2.1
2.2.2
2.2.3
2.2.4
Telefon
Sprechstunde
Hausbesuche
Internet
9
9
9
9
2.3 Spannungsfelder / Dilemmas
2.3.1
2.3.2
2.3.3
Postulat der Angemessenheit
Eigenverantwortung und Toleranz versus "eingreifende Fürsorge"
Qualität unter schwierigen Bedingungen
10
10
11
3 Die Struktur des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Euskirchen
3.1
Organisation
3.2
Arbeitsweise
3.2.1
Fallarbeit
3.2.2
Teamarbeit
3.2.3
Arbeit in Gremien, Vernetzung, Kooperation
12
12
12
12
13
14
4 Die Klienten des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Euskirchen
4.1
Klientenstruktur - Entwicklung und Veränderung des Bedarfs in den letzten
10 Jahren, Statistik
4.2
Fallbeispiele
4.2.1
Demenz
4.2.2
Burnout
4.2.3
Psychose
4.2.4
Krise, Psychosoziale Notlage
4.2.5
Verwahrlosung
15
5 Schlussbemerkung
28
Ansprechpartner
29
15
19
19
21
22
24
25
4
1. Einleitung
1.1 Rechtsgrundlage
Neben dem im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzip befindet sich die Ausgangsnorm der Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes in SGB I § 10. Sie lautet:
Menschen, die körperlich, geistig oder seelisch behindert sind oder denen eine
solche Behinderung droht, haben unabhängig von der Ursache der Behinderung
ein Recht auf die Hilfe, die notwendig ist, um die Behinderung abzuwenden, zu
beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu
vermindern. Damit soll dem Betroffenen ein seinen Neigungen und Fähigkeiten
entsprechender Platz in der Gesellschaft, insbesondere im Arbeitsleben, gesichert
werden.
Im Einzelnen sind die gesetzlichen Vorgaben im Psychisch-Kranken-Gesetz
(PsychKG) sowie im Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes
Nordrhein-Westfalen (ÖGDG NRW) und im Sozialgesetzbuch XV (SGB) geregelt.
Zusätzlich zu den oben ausgeführten gesetzlichen Bestimmungen hat die Expertenkommission der Bundesregierung im November 1988 in ihrer Empfehlung zur
Reform der psychiatrischen Versorgung bestimmte Aufgaben und Arbeitsweisen
des Sozialpsychiatrischen Dienstes formuliert. Unter anderem wurde als Aufgabe
Beratung von Hilfesuchenden und Angehörigen empfohlen. Ein Kernpunkt der
Aufgabe ist auch, psychisch kranke Personen, die noch nicht im Regelversorgungssystem sind, dort einzubinden. Auch persönlicher Kontakt in Form von
Hausbesuchen wird dort genannt.
1.2 Zur aktuellen Situation des Sozialpsychiatrischen Dienstes
Der sozialpsychiatrische Dienst (SpD) ist in der Regel der unteren Gesundheitsbehörde angegliedert. In ihm werden ärztliche und sozialarbeiterische Hilfen für
psychisch kranke Menschen koordiniert. Der sozialpsychiatrische Dienst ist der
einzige Dienst, der dazu verpflichtet ist, neben der Beratung von Betroffenen, Angehörigen, sonstigen Personen und Institutionen (einschließlich gutachterlicher
Tätigkeit) auch Hilfe in Form von Hausbesuchen zu leisten. Der Dienst steht allen
Bürgern kostenlos zur Verfügung. Eine ärztliche Behandlung ist jedoch in der Regel durch den sozialpsychiatrischen Dienst nicht möglich.
In den letzten Jahren hat die Arbeit der Sozialpsychiatrischen Dienste zugenommen. Zum einen sind im Rahmen nötiger kommunaler Sparmaßnahmen andere
Hilfsdienste wie der allgemein soziale Dienst reduziert. Hierdurch werden Aufgaben, die sonst durch die Sozialarbeit in der Kommune übernommen wurden, vom
Sozialpsychiatrischen Dienst übernommen. Des Weiteren hat sich für die psychisch Kranken der Zugang in das Regelsystem erschwert. So gibt es heute, insbesondere im ländlichen Bereich, lange Wartezeiten bei ambulant behandelnden
Psychiatern und Psychotherapeuten. Weiterhin haben sich Liegezeit von psychisch kranken Menschen in den Krankenhäusern deutlich verringert. Dadurch
kommt es nach unseren Feststellungen häufiger zu Krankheitsrückfällen mit einer
5
Zunahme von Krisensituationen, in denen der Sozialpsychiatrische Dienst eingeschaltet wird. Durch die kürzeren Liegezeiten in den Krankenhäusern ist ein höherer Bedarf an Nachsorgenden Hilfen entstanden. Diese Zunahme von Aufgaben
wird bisher von keiner wesentlichen Besserung des Angebots flankiert.
Im Abschluss-Bericht der Universität Siegen zum Forschungsprojekt „kommunale
Gesundheitsberichterstattung über psychische Unterbringungen…" ist gerade die
Arbeit der sozialpsychiatrischen Dienste mit der frühzeitigen und kompetenten Hilfe vor Ort unter Beteiligung anderer Institutionen ein Dienst, der Krisen so handhaben kann, dass PsychKG-Unterbringungen auf ein Minimum reduziert werden
können.
Bei der Durchführung von Einladungen, Hausbesuchen und Krisenintervention ist
eine sorgfältige Planung erforderlich. Dies gilt besonders, wenn davon auszugehen ist, dass Betroffene die Hilfe nicht annehmen wollen. Für Hausbesuche und
Krisenintervention sollten vorab alle zu erhaltenden Informationen gesammelt
werden.
Dabei sollte beachtet werden, dass die Intervention so wenig wie möglich in die
Persönlichkeitsrechte des psychisch Kranken eingreift. Soweit möglich, wäre daher eine zunächst weniger eingreifende Einladung in die Behörde dem Hausbesuch vorzuziehen.
Bei Meldungen steht der sozialpsychiatrische Dienst häufig unter dem öffentlichen
Druck, zu handeln, verbunden mit der dringlichen Erwartung einer unmittelbaren
Problemlösung. Auf der andern Seite gibt es vom Gesetz klare Vorgaben, die ein
Handeln gegen den Willen des Betroffenen nur bei unmittelbarer Eigen- oder
Fremdgefährdung erlauben.
Die angetroffenen Situationen aber sind oft nicht eindeutig und es besteht immer
die Gefahr, selbst bei gut abgewogener Entscheidung zu viel oder auch zu wenig
getan zu haben. Mögliche Folgen wären eventuell vermeidbare geschlossene Unterbringung eines Betroffenen oder auch Fehleinschätzung des Risikos von Eigenund Fremdgefährdung. Jede sorgfältig abwägende Planung ist daher in hohem
Maße zeitaufwändig.
6
2. Die Aufgaben des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Euskirchen
Der Sozialpsychiatrische Dienst des Kreises Euskirchen bietet Erwachsenen, im
Einzelfall auch Minderjährigen, im Kreis Euskirchen mit 191.000 Einwohnern
Hilfen bei psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen sowie bei psychischen oder geistigen Behinderungen an.
Aktuell ist der Sozialpsychiatrische Dienst mit 2,5 Sozialarbeiterstellen, 0,5 Psychiaterstellen und 1,0 Sekretariatsstellen besetzt.
Bei der Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes handelt es sich um eine kommunale Pflichtaufgabe. Der gesetzliche Handlungsauftrag ergibt sich aus dem
ÖGDG NRW § 16 und PsychKG NRW § 5. Der Sozialpsychiatrische Dienst soll
die erforderlichen Hilfen bedarfsgerecht und im Rahmen des gemeindepsychiatrischen Verbundes leisten. Vorrangig sollen Personen erreicht werden, die den Zugang zum Versorgungssystem (niedergelassene Ärzte, Anbieter von Betreutem
Wohnen, ambulante Psychotherapeuten, Kliniken etc.) aufgrund der Schwere ihrer
Beeinträchtigung nicht selbst bewältigen. Nur ein geringer Anteil der Klienten
nimmt von sich aus die Hilfe des Sozialpsychiatrischen Dienstes in Anspruch.
Als kommunaler Dienst ist der Sozialpsychiatrische Dienst dem Gemeinwohl der
Bürger verpflichtet und bei Wahrung seiner Neutralität bestrebt, für einen Interessensausgleich gesunder und kranker Bürger zu sorgen und ein gutes Zusammenleben in Nachbarschaft und Familie zu erhalten oder zu fördern.
Charakteristisch für die Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes ist der alltagsund lebensweltbezogene Ansatz. Dazu gehören die Einbeziehung des sozialen
Netzwerkes und die Kooperation mit anderen Personen oder Institutionen. Der
Ansatz ist niedrigschwellig. Bei Bedarf wird aufsuchend gearbeitet. Eine wichtige
Funktion des Dienstes ist auch die Vermittlung in geeignete Maßnahmen und Behandlungen, soweit dies möglich ist, und die überbrückende Unterstützung, bis
andere Leistungsträger (wie z.B. Krankenkassen, Betreuungsstelle des Amtsgerichts, Landschaftsverband) nach Entscheidung über Zuständigkeit und Bewilligung ihre Hilfen starten.
Die Tätigkeit beginnt nach dem Bekanntwerden von entsprechendem Bedarf oder
Notsituationen. Der Sozialpsychiatrische Dienst erhält davon Kenntnis durch die
betroffenen Personen selbst oder durch Hinweise aus deren Umfeld sowie von
anderen Institutionen (z.B. Polizei, Ordnungsamt, Jugendamt, Jobcenter).
2.1 Kernaufgaben nach dem PsychKG
2.1.1 Krisenintervention nach PsychKG § 14
Bei der Krisenintervention handelt es sich um Hilfen für psychisch kranke Personen, die in erster Linie der Vermeidung einer sofortigen Unterbringung nach
PsychKG § 14 dienen sollen. "Ist bei Gefahr im Verzug eine sofortige Unterbringung notwendig, kann die örtliche Ordnungsbehörde die sofortige Unterbringung
ohne vorherige gerichtliche Entscheidung vornehmen, wenn ein ärztliches Zeugnis
über einen entsprechenden Befund vorliegt, der nicht älter als vom Vortage ist…"
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(PsychK § 14 Abs. 1). Eine sofortige Unterbringung kann nur dann erfolgen, wenn
alle folgenden Punkte erfüllt sind:
1. Gefahr im Verzug
2. durch krankheitsbedingtes Verhalten
3. gegenwärtig, d.h. zum jetzigen Zeitpunkt
4. eine erhebliche Selbstgefährdung (z.B. erhebliche Selbstverletzung, akute Suizidabsicht)
5. oder erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter Dritter (Leib, Leben, erhebliche Sachgüter)
6. die Maßnahme erforderlich ist, um die Gefährdung abzuwenden, d.h. die Gefährdung auf andere Art nicht abgewendet werden kann.
Ist ein Punkt nicht erfüllt, darf eine sofortige Unterbringung durch die Ordnungsbehörde nicht erfolgen.
Nachdem die Hintergrundrecherche der Meldung und eine Prüfung der Notwendigkeit einer Unterbringung nach PsychKG erfolgt ist und diese nicht zu vermeiden
ist, wird die Zwangsmaßnahme organisiert und durchgeführt.
Bei erheblicher akuter Eigen- oder Fremdgefährdung dient die Einweisung der Gefahrenabwehr, aber auch der individuellen Fürsorge. Es handelt sich einerseits um
eine Freiheitsentziehung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, aber auch um eine Freiheitsentziehung im Interesse des psychisch Kranken und
damit zu seinem eigenen Schutz und Wohlergehen.
Der Sozialpsychiatrische Dienst interveniert bei einer Krise unmittelbar, flexibel
und unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes. Es geht dabei um die Deeskalation der Situation und Stabilisierung der psychischen Verfassung des Kranken. Ihm
werden alternative Handlungsmöglichkeiten und Hilfen erläutert und ggf. eingeleitet.
2.1.2 Vor- und nachsorgende Hilfen nach PsychKG §§ 7 und 27
Vor- und nachsorgende Hilfen haben das Ziel, einer Krankenhausunterbringung
vorzubeugen. "Die vorsorgende Hilfe soll insbesondere dazu beitragen, dass Betroffene rechtzeitig medizinisch und ihrer Krankheit angemessen behandelt werden, und sicherstellen, dass zusammen mit der ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung psychosoziale Maßnahmen und Dienste in Anspruch genommen werden." (PsychKG § 7)
"Ziel der nachsorgenden Hilfe ist es, die Betroffenen nach einer Unterbringung oder einer sonstigen stationären psychiatrischen Behandlung durch individuelle,
ärztlich geleitete Beratung und psychosoziale Maßnahmen zu befähigen, ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft zu führen".
(PsychKG § 27 Abs. 1)
Vor- und nachsorgende Hilfen können aber auch darin bestehen, falls die Notwendigkeit besteht, eine frühzeitige und möglichst freiwillige Krankenhausaufnahme einzuleiten und zu vermitteln. Es besteht jedoch der Grundsatz ambulant vor
stationär.
8
Die Hilfen des interdisziplinären Teams im Sozialpsychiatrischen Dienst sind
Kontakt- und Motivationsarbeit:
Herstellen einer tragfähigen Arbeitsbeziehung und einer Behandlungs- bzw.
Veränderungsmotivation
Psychosoziale Beratung (in der Regel Einzelberatung, bei Bedarf auch Paarbzw. Familienberatung)
Aufsuchende Hilfen (Krankenhaus, Hausbesuche etc.)
Begleitende Hilfen (Sozialbüro, Agentur für Arbeit etc.)
Sozialarbeiterische Begutachtung (Stellungnahmen, Sozialberichte, Betreuungsanträge etc.)
Casemanagement:
Koordinierung / Vermittlung von Hilfsmaßnahmen und Kontakt zu relevanten
Personen und Institutionen
Kooperationsvereinbarung mit Jobcenter
Suchtberatung:
Psychosoziale Betreuung von mit Methadon substituierten Opiatabhängigen
Vermittlung und Vorbereitung auf Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung
für alle Suchtkranken
Kooperation mit anderen Diensten und Institutionen
Psychosoziale Diagnostik
Psychoedukation:
Aufklärung von Betroffenen und Angehörigen über Krankheitsbilder
Information und Beratung von Angehörigen, Betroffenen und Interessierten
Alltagspraktische Hilfen
2.1.3 Psychiatrische Begutachtung
Wichtige gesetzliche Grundlagen bei psychiatrischen Begutachtungen sind
PsychKG, SGB XII, SGB VIII, SGB II, BBG (Bundesbeamtengesetz), AsylbLG (Asylbewerberleistungsgesetz) und ÖGDG.
Auftraggeber sind externe Behörden, Gerichte u.s.w. sowie Ämter und Abteilungen der eigenen Kommunalverwaltung.
Die Gutachten dienen als Grundlagen der Entscheidungshilfe für die Auftraggeber.
Zur Begutachtung kann eine Ladung in die Dienststelle, aber auch ein angekündigtes oder unangekündigtes Aufsuchen erfolgen.
2.1.4 Fachaufsicht
Gesetzliche Grundlage der Fachaufsicht ist das PsychKG § 23.
Die Fachaufsicht dient durch regelmäßige Durchführung von Besuchskommissionen der Qualitätskontrolle der klinischen psychiatrischen Behandlung.
9
2.2 Wie werden die Hilfen angeboten?
2.2.1 Telefon
Der Sozialpsychiatrische Dienst ist während der Servicezeiten ständig erreichbar.
Telefonische Beratung wird sehr oft in Anspruch genommen. Auch spielt die telefonische Recherche bei Krisenmeldungen eine große und zeitintensive Rolle. Bei
Abwesenheit der Mitarbeiter/innen ist durch Umstellen der Telefone auf Anrufbeantworter bzw. das Benennen der Telefonnummer des Sekretariats für dringende
Angelegenheiten die ständige Erreichbarkeit gesichert. Im Außendienst sind die
Mitarbeiter/innen über Mobiltelefone zu erreichen.
2.2.2 Sprechstunde
Während der Servicezeiten ist immer mindestens ein Mitarbeiter/in präsent. Durch
Teamabsprachen wird in Urlaubszeiten eine ständige Vertretung gesichert.
Die Beratungsgespräche finden meistens nach Terminabsprachen statt. Einmal
wöchentlich wird eine Sprechstunde im Rathaus Schleiden angeboten.
2.2.3 Hausbesuche
Nach PsychKG § 8 Abs.2 sind Hausbesuche anzubieten. Der Sozialpsychiatrische
Dienst ist der einzige Fachdienst, der zur aufsuchenden Hilfe bei psychischen Krisen und Notfällen verpflichtet ist.
Da es sich beim Kreis Euskirchen um einen großflächigen Landkreis handelt, in
welchem den Klienten aus krankheitsbedingten oder finanziellen Gründen die Nutzung des öffentlichen Verkehrssystems sehr schwer fällt oder unmöglich ist und
der Großteil des Klientels nicht über eine eigene Fahrgelegenheit verfügt, kommt
Hausbesuchen eine besonders hohe Bedeutung zu.
Vor allem bei Krisen oder psychiatrischen Notfallsituationen, aber auch um zurückgezogene, ältere oder durch die Erkrankung schwer beeinträchtigte Personen
erreichen zu können, werden aufsuchende Hilfen zwingend notwendig.
2.2.4 Internet
Einige Bürger nehmen über das Internet Kontakt auf.
Der Sozialpsychiatrische Dienst ist indirekt über die Mailbox des Kreises Euskirchen und direkt über die Veröffentlichung der Mail-Adresse unseres Sekretariats
erreichbar. Darüber hinaus verfügt der Sozialpsychiatrische Dienst über die MailAdresse: sozialpsychiatrischer.dienst@kreis-euskirchen.de. Abgesehen davon ist
jede/r Mitarbeiter/in über seine persönliche Mailadresse erreichbar.
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2.3 Spannungsfelder / Dilemmas
2.3.1 Postulat der Angemessenheit
Wenn eine Leistung des Sozialpsychiatrischen Dienstes nicht aktiv und eigenverantwortlich durch einen Bürger oder eine Bürgerin in Anspruch genommen, sondern die Hilfe durch beteiligte Dritte initiiert wird, ist zunächst anhand der Informationslage abzuwägen, ob eine behördliche Intervention angemessen, erforderlich
oder abzuweisen ist. Z. B. weil die Meldung eher aus einem persönlichen Motiv Rache, Enttäuschung, Denunziation - heraus erfolgt ist.
Die Eingriffsschwelle ist erreicht, sobald aus einer Meldung hervorgeht, dass der
Betroffene sich krankheitsbedingt selbst erheblich gefährdet oder bedeutende
Rechtsgüter anderer (d.h. andere Personen, fremde Sachen) erheblich gefährdet.
Die Rechtsgrundlage setzt den Rahmen für interdisziplinär zu treffende, einzelfallbezogene Entscheidungen, die nicht nur fachlich und juristisch, sondern auch ethisch und menschlich zu vertreten sind, innerhalb des Dienstes und nach Außen.
Wenn Nachbarn, Passanten oder Familienangehörige beschimpft werden, leichte
Sachbeschädigung erfolgt, Kranke durch ihren gestörten Tag- und Nachtrhythmus
(Nächtliches Möbelrücken, Unterhaltung mit wahnhaft eingebildeten Personen)
ihre Mitmenschen am Schlafen hindern, sie ihren Verpflichtungen als Mieter in einer Hausgemeinschaft nicht nachkommen und bedrohliche oder belästigende Äußerungen machen, liegen die Nerven im betroffenen Umfeld blank. Ein Verstehen oder sogar Verständnis dafür, dass Zwangsmaßnahmen nicht, nicht mehr oder noch nicht eingeleitet werden, ist dann eher nicht zu erwarten. Viele hochgradig eskalierende Situationen (Manische Phasen, psychotische Schübe, depressivsuizidale Krisen, alkohol- und drogenbedingte Auffälligkeiten, Verwirrtheitszustände) müssen im Rahmen einer kontinuierlichen Gefährdungseinschätzung begleitet
werden, bis entweder eine Besserung eintritt oder die Eingriffsschwelle erreicht
wird. Unmittelbare Eingriffe in Persönlichkeitsrechte sind: Wohnungsbetretung
nach PsychKG § 9 Abs. 7, Einweisung in die geschlossene Psychiatrie, Antrag auf
Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung ohne oder gegen die Zustimmung des
Erkrankten.
Diese Diskrepanz lässt sich meist nur bedingt auflösen. Mit kritischen Reaktionen
aus dem betroffenen Umfeld oder vom Klienten ist dann zu rechnen.
2.3.2 Eigenverantwortung und Toleranz versus "eingreifende Fürsorge"
Die Zielsetzung sozialpsychiatrischen Handelns ist in vielen Fällen janusköpfig.
Der Sozialpsychiatrische Dienst hat bei jeder Maßnahme die Wahrung der Grundrechte, das Recht auf Selbstbestimmung, die Förderung von gesellschaftlicher
Teilhabe und den Schutz vor Ausgrenzung von psychisch Kranken auf der einen
Seite zu beachten, auf der anderen Seite stehen das Schutzbedürfnis der Gesellschaft und die öffentliche Ordnung, welche den Auftrag zur "eingreifenden Fürsorge" begründen.
Schwierig gestaltet sich in vielen Fällen die Unterscheidung zwischen krankheitsbedingten Verhaltensweisen und kriminellen bzw. strafrechtlich relevanten Tatbeständen. Ist ein Exhibitionist, der wie in einem uns bekannten Fall eine ganze
Kleinstadt durch seine Belästigung von Frauen tyrannisiert, strafmündig oder gibt
es krankheitsbedingte Auslöser (z.B. Suchtmittelkonsum, hirnorganische Verände-
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rungen, beginnende Psychose) für sein Verhalten. Die Abgrenzung der Sozialpsychiatrie zur Forensischen Psychiatrie ist in Einzelfällen nicht eindeutig.
Ist eine gesellschaftlich randständige Existenz (Wohnwagen am Waldrand, unbeheizte Hütte, Zelt am Stadtrand etc.,) eine alternative Lebensform, der eine eigenverantwortliche Entscheidung vorausgegangen ist, die von der Gesellschaft zu
akzeptieren ist ("Freiheit zur Verwahrlosung") oder ist sie Ausdruck einer sozialen
Notlage verbunden mit krankheitsbedingten Einschränkungen? Falls der Einschätzung nach Letzteres zutrifft, setzt die "freundliche Belagerung" durch Mitarbeiter/Innen des Sozialpsychiatrischen Dienstes ein, um den Hilfe- und Interventionsbedarf zu prüfen.
2.3.3 Qualität unter schwierigen Bedingungen
Neben gesellschaftlich historisch bedingten Vorurteilen gegenüber dem öffentlichen Gesundheitsdienst ("offene Irrenfürsorge", "Fürsorgestelle für Nerven- und
Gemütskranke"), gibt es individuelle Vorbehalte gegenüber Hilfs- und Beratungsangeboten. Die Frage "Soll ich denn nun entmündigt werden?" wird auch zwanzig
Jahre nach Einführung des Betreuungsrechts noch häufig gestellt, wenn ein Antrag auf gesetzliche Betreuung angezeigt ist.
Sozialarbeiter/Innen, die im Rahmen des allgemeinen sozialen Dienstes für alle
Altersgruppen ansprechbar waren und bei den Städten oder Gemeinden vor Ort
viele Problemlagen auffangen konnten, sind weitgehend eingespart worden, so
dass die Problemlagen dann verzögert und somit schon in eskalierter Form an
den Sozialpsychiatrischen Dienst weitergereicht werden.
Ungefähr die Hälfte der Klienten des Sozialpsychiatrischen Dienstes beziehen Arbeitslosengeld II. Krankheitsbedingt sind viele mit der Antragstellung und eigenständigen Kooperation (Mitwirkungspflicht) mit dem Jobcenter überfordert. Kürzungen, Einstellung der Leistung oder der Druck in eine angemessene Wohnung
umzuziehen, lösen Krisen aus, nicht selten Suizidkrisen. Innerhalb des engen leistungsrechtlichen Rahmens sind Lösungen mit dem Klienten und der Behörde zu
entwickeln.
Der Sozialpsychiatrische Dienst wird ohne Prüfung eventueller Anspruchsvoraussetzungen tätig und wird dadurch zum niederschwelligsten Angebot innerhalb des
Versorgungssystems. Er dient der unmittelbaren Sicherstellung kommunaler Daseinsvorsorge für psychisch kranke Bürger.
Nach Einschätzung der Dringlichkeit einer Meldung kann unmittelbares Intervenieren erforderlich sein. In Zeiten chronisch überbelegter psychiatrischer Stationen
sowie langer Wartezeiten auf eine ambulante Psychotherapie, einen Termin in der
Institutsambulanz oder beim Facharzt und ausgelasteter Hausarztpraxen ist der
Sozialpsychiatrische Dienst aber auch die Institution, die nicht weiter verweisen
kann. Dies führt in Zeiten gehäufter Krisenmeldungen oder in Urlaubs- und Vertretungszeiten - bei aller Professionalität und Berufserfahrung der Mitarbeiter/innen zu individuellen Notlagen auf der falschen Seite des Schreibtisches.
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3 Die Struktur des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Euskirchen
3.1 Organisation
Die Organisation des Sozialpsychiatrischen Dienstes ist darauf ausgerichtet, die Hilfe
flexibel und gemeindenah innerhalb des Kreises Euskirchen anzubieten.
Die Städte und Gemeinden des Kreises sind anhand der Einwohnerzahlen und der
strukturellen Gegebenheiten (soziale Brennpunkte, Entfernung bei aufsuchenden
Terminen) in drei Bezirke aufgeteilt, die sich entsprechend der Wochenarbeitszeit auf
die drei Sozialarbeiterinnen verteilen.
Außerhalb der Kreisverwaltung wird einmal wöchentlich Beratung in der Stadtverwaltung Schleiden angeboten.
Beratungsgespräche und Hausbesuche erfolgen soweit möglich nach Terminabsprache.
Es gibt keine festen Innendienstzeiten, da diese von einem sehr kleinen Dienst, der
innerhalb der Service-Zeiten eine Kriseninterventionsbereitschaft bietet, nicht leistbar sind.
Zur Sicherstellung der Beratungs- und Prozessqualität und weil der Umgang mit
selbst- oder fremdgefährlichen Situationen und Personen zum Arbeitsalltag gehört,
ist eine kontinuierliche Dokumentation der Arbeit unerlässlich. Die Dokumentation
erledigen die Sozialarbeiterinnen selbst im Rahmen der Fallzuständigkeit.
Seit 2009 erfolgt die Umstellung auf digitale Aktenführung, die bis auf einige Restbestände an Akten, abgeschlossen ist.
3.2 Arbeitsweise
3.2.1 Fallarbeit
Ein sozialpsychiatrischer Grundsatz in der theoretischen und praktischen Arbeit ist
die Sicht auf eine psychische Erkrankung oder Störung unter Berücksichtigung biologischer, psychologischer, systemischer, biographischer und sozialer Aspekte.
Übergeordnete Ziele sind, einem psychisch Erkrankten, einem in einer entwicklungspsychologischen Übergangsphase (z.B. Adoleszenz, Familiengründung, Ein- und
Ausstieg aus dem Berufsleben) gescheiterten oder durch schicksalhafte Ereignisse
aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen wieder eine eigenverantwortliche Alltagsbewältigung und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen oder wiederherzustellen. Eine Ausnahme hiervon bilden Klienten, die diese Ziele ausdrücklich nicht
anstreben, sich dem Anpassungsdruck der Gesellschaft widersetzen und sich für ein
Leben außerhalb der (Konsum- ) Gesellschaft und Konventionen entschieden haben.
Die Kontaktaufnahme zum Sozialpsychiatrischen Dienst erfolgt selbst- oder fremdinitiiert. Die Bandbreite reicht vom eigenständigen Aufsuchen der Beratung verbunden
mit einem Veränderungswunsch und Beratungsziel, über milden Druck z.B. durch
Angehörige, Arbeitgeber oder Sozialleistungsträger, bis hin zu Zwangskontexten. Der
Zwang kann begründet sein durch eine gerichtliche Auflage oder die Androhung einer Zwangsvorführung (PsychKG § 9 Abs. 3).
Die Kontaktaufnahme und der Beziehungsaufbau zu Klienten gestalten sich entsprechend schwierig, wenn diese selbst keine Motivation haben oder einen persönlichen
Kontakt sogar aktiv vermeiden wollen. Neue Klienten oder bereits bekannte werden
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aus dem Umfeld oder von anderen Institutionen und Kooperationspartnern gemeldet,
nicht selten verbunden mit einem Gefahrenhinweis. Von erkrankten Menschen die
keine Krankheits- und Problemeinsicht haben, wird ein Kontaktangebot (Einladung,
Anruf, angemeldeter Hausbesuch) durch eine/n Mitarbeiter/in des Sozialpsychiatrischen Dienstes oftmals bereits als Ärgernis, Grenzverletzung oder gar Bedrohung
erlebt.
Die im Prozess zu erbringenden Beratung, Hilfs- und/oder Schutzmaßnahmen richten sich nach dem individuellen Bedarf und der psychosozialen Ausgangssituation
der Betroffenen.
Im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben (PsychKG) muss der Sozialpsychiatrische
Dienst in Kooperation mit der zuständigen Ordnungsbehörde und der Polizei bei Bedarf Zwangsmaßnahmen einleiten bzw. koordinieren (Einweisung in geschlossene
psychiatrische Behandlung, Betreten der Wohnung, Zwangsvorführung zwecks psychiatrische Untersuchung). Bevor es zur notwendigen und angemessenen Androhung oder Anwendung von Zwangsmaßnahmen kommt, sind alle alternativen Möglichkeiten auszuschöpfen. Ziel ist es, auch in schwierigsten Fallkonstellationen und
Situationen ein tragfähiges Arbeitsbündnis mit dem Klienten herzustellen, ohne die
Erfüllung des öffentlichen Kontroll- und Interventionsauftrages dabei aus den Augen
zu verlieren. Freiwilligkeit, Eigenmotivation, Eigenverantwortung, Zielfindung, Veränderungsbereitschaft und Krankheitseinsicht können sich in jeder Phase des Beratungs- und Interventionsprozesses entwickeln. Wichtig ist das Verständnis von und
der deeskalierende Umgang mit Widerständen, Krankheitssymptomen und Aggressionen von Seiten der Klienten. Vertrauensbildende Maßnahmen innerhalb von
Zwangskontexten sind nur über Beziehungsarbeit möglich und dementsprechend
zeitintensiv.
Transparenz, Angemessenheit, Respekt und ein wertungsfreier Umgang mit dem
Bürger in jeder Phase der Zusammenarbeit ist oberstes Gebot.
3.2.2 Teamarbeit
Der Sozialpsychiatrische Dienst als eine Institution der Sozialpsychiatrie steht für interdisziplinäre Zusammenarbeit und offenen Dialog über die unterschiedlichen Ansätze in der Psychosozialen Diagnostik und Intervention. Die Komplexität und Bandbreite der individuellen psychosozialen Problemlagen erfordert einen kontinuierlichen
Austausch und kritische Reflexion.
Es gibt keine fachliche Spezialisierung innerhalb der Mitarbeiterinnen, was sich besonders in Vertretungssituationen positiv auswirkt.
Um der fachübergreifenden Ausrichtung gerecht zu werden und eine Aktualisierung
der Kenntnisse über Rechtsgrundlagen (Sozialgesetze, Betreuungsgesetz und
PschKG), Sozialmedizin, Psychiatrie, Psychologie und die zahlreichen Kooperationspartner (Organisationsstrukturen, Arbeitsweisen und Zugänge) sicherzustellen, werden innerhalb des Teams (Sozialarbeiterinnen und Facharzt für Psychiatrie ) wöchentlich Teamsitzungen abgehalten und regelmäßige Supervision durch externe
Supervisoren/innen durchgeführt. Zudem werden Fachvorträge oder -tagungen angeboten und in Anspruch genommen.
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3.2.3 Arbeit in Gremien, Vernetzung, Kooperation
Der Sozialpsychiatrische Dienst ist einerseits selbst Anbieter von Hilfen für Menschen mit psychischen Erkrankungen und andererseits bestrebt die gemeindepsychiatrische Versorgungsstruktur und Kooperation zu optimieren.
Hierzu dient eine aktive Teilnahme an den Arbeitskreisen der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft des Kreises Euskirchen (PSAG) und regionaler Netzwerke (z. B.
Runder Tisch gegen häusliche Gewalt, Netzwerk FREIO (Hilfen für Kinder psychisch
kranker Eltern)).
Darüber hinaus findet ein Austausch über die Landesarbeitsgemeinschaft Sozialpsychiatrischer Dienste NRW statt.
Um Ausgrenzung von Menschen mit psychischer Erkrankung zu reduzieren ist die
fachliche Positionierung und sachliche Information und Beratung des persönlichen
Umfeldes, der betroffenen Familien und der Bevölkerung erforderlich.
Im Rahmen des Fallmanagements sind individuelle Kooperationen und Netzwerke für
den Klienten zu knüpfen. Eine erhöhte Wirksamkeit des Dienstes wird durch Kenntnis, Vermittlung und Vernetzung mit allen Anbietern erreicht, d.h. den behördlichen,
karitativen und ehrenamtlichen.
15
4 Die Klienten des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Euskirchen
4.1 Klientenstruktur-Entwicklung und Veränderung des Bedarfs in den letzten
10 Jahren, Statistik
Der Sozialpsychiatrische Dienst ist vorrangig für schwer psychisch kranke Menschen,
zu denen auch Suchtkranke und Menschen mit Doppeldiagnosen (Psychische Erkrankung u. Suchterkrankung) zählen, zuständig die durch keine andere Behörde
oder Institution adäquate Hilfe bekommen können. Die Interventionen erfolgen bedarfsorientiert. Der Bedarf hat sich in den letzten 10 Jahren drastisch verändert. So
hat sich die Anzahl der Klienten im Jahr 2001 von 337 betreuten Menschen auf 522
im Jahr 2011 erhöht. Deutlich ist auch der Anstieg der neu aufgenommenen Klienten.
Hier sieg die Anzahl der Neuaufnahmen von 201 im Jahr 2001 auf 307 im Jahr 2011.
Ein Jahr zuvor waren es sogar 357 Personen (Abb.1). Entsprechend gestiegen ist
auch Anzahl der Kontakte insgesamt (Hausbesuche und persönliche sowie telefonische Beratungen).
Auffallend ist ein Anstieg der betreuten Personen mit einer vorrangig psychischen
Erkrankung. Dieser erhöhte sich in den letzten sechs Jahren(von 2005 - 2011) von
225 auf 384 Personen (Abb.2).
Klientenanzahl nach Betreuungsstand
600
500
400
Anzahl 300
200
100
0
2001
2006
2010
2011
In Betreuung
146
210
215
216
Erstkontakte
191
217
357
307
Insgesamt
337
434
579
522
Jahre
Abb.1: Anzahl der Klienten und Betreuungsstand im zeitlichen Verlauf. Der besondere Bedarf in 2010
kann mit der Umstrukturierung der ARGE in das Jobcenter zusammenhängen. Eine Optimierung der
Zusammenarbeit hat in Folge zu einer Verbesserung der Hilfestellungen für die Klientel geführt.
16
Entwicklung der Klientel nach Diagnosen
450
400
350
300
250
Anzahl
200
150
100
50
0
2006
2007
2008
2009
2010
2011
Sucht
160
107
101
95
115
71
Doppeldiagnosen
39
39
30
41
35
58
Psychisch Kranke
225
241
257
328
421
384
Jahre
Abb.2: Anzahl der Klienten und Diagnosen im zeitlichen Verlauf seit 2006. Es zeigt sich, dass der Anteil der Suchtkranken und Klienten mit Doppeldiagnosen relativ konstant geblieben ist.
Psych KG-Unterbringungen 2011
Organische Störungen
22%
Sucht
28%
Sonstige
8%
Psychose
21%
Persönlichkeitsstörung
4%
Anpassungsstörung
3%
Depression
14%
Abb. 3: Anteil der Unterbringung nach dem Psych KG in Prozent im Jahr 2011
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Bei der Aufteilung der Unterbringungen im Kreis Euskirchen nach dem Psychisch
Krankengesetz zeigt sich ein ähnliches Bild. Der Anteil der Suchtkranken mit 28%
steht hier einem Anteil von insgesamt 72% psychisch Erkrankter gegenüber (Abb.3).
Die Ursache für den stetigen Anstieg der psychischen Erkrankungen scheint in den
gesellschaftlichen Veränderungen zu liegen. Insbesondere hat die neue Sozialgesetzgebung (u.a. Hartz IV) und Gesundheitsreform (u.a. Facharztmangel, kürzere
Krankenhausaufenthalte) Auswirkungen auf die Klientenstruktur. Erhöhter sozialer
Stress wirkt sich nachteilig auf die Gesundheit aus.
Auch die zunehmende Verarmung und Verunsicherung in den Lebenssituationen
bewirkt bei psychisch labilen Menschen zunehmenden Beratungs- und Betreuungsbedarf. Auswirkungen auf die praktische Arbeit hat dies insbesondere auf die Form
der Hilfen. Da vorrangig Akuthilfen notwendig sind, treten längerfristige intensive Begleitung und Unterstützung in den Hintergrund. Daher ist die gesetzlich verankerte
Vor- und Nachsorge nicht adäquat möglich. Schwerpunktmäßig werden daher die
Überprüfung von Gefährdungssituationen und die Organisation von Hilfen (case management) nötig.
Vor dem Hintergrund der bereits oben beschriebenen gesetzlichen Veränderungen
soll eine beispielhafte Situation die Problematik verdeutlichen: Es wird ein Klient auf
Grund seiner psychischen Erkrankung (z.B. Depression mit der Folge der sozialen
Isolation) seinen Mitwirkungspflichten bei Behörden (Jobcenter, Agentur für Arbeit,...)
nicht gerecht. Als Folge entstehen z.B. Zahlungssperrungen, die wiederum zu einer
Verschärfung der Lebenssituation führen, da die Rechnungen nicht mehr beglichen
werden können und der Lebensunterhalt nicht mehr sichergestellt ist. Der daraus resultierende Wegfall der Krankenversicherung oder und eine Räumungsklage lassen
einen akuten Hilfebedarf entstehen. Wenn keine Bezugspersonen vorhanden sind,
kann in einer solchen Situation in der Regel nur der Sozialpsychiatrische Dienst eingreifen.
Die Veränderungen im Gesundheitssystem machen sich z.B. in folgenden Situationen bemerkbar. Die Anbindung an einen niedergelassenen Facharzt für Psychiatrie
oder Psychotherapeuten ist erschwert worden, da diese erst nach langer Wartezeit
möglich (Fachärzte ca. 3 - 4 Monate, Psychotherapeuten ca. ½ - 1 Jahr) ist. Eine
weitere Entwicklung ergibt sich aus den Verkürzungen der stationären Krankenhausbehandlungen, die schon seit mehreren Jahren zu beobachten sind.
Laut Pressemitteilung vom 13.08.12 der BKK (s. Abb. 4) ist der Krankenstand wieder
auf das Niveau von 1999 gestiegen, wobei die psychischen Erkrankungen einen bisherigen Höchststand erreicht haben. Ihr Anteil erhöhte sich stetig seit 1976 mit 2%,
über 7,5 % (2004) bis 13,2% im Jahr 2011an.
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Abb. 4: Prozentuale Verteilung der häufigsten Erkrankungen je 100 beschäftigte Pflichtmitglieder der BKK und Anzahl der
Krankheitstage
Zudem kann diese Situation auch zu weniger intensiver Vorbereitung der Nachsorge
durch den Krankenhaussozialdienst führen. Schon kurze Zeit nach der Entlassung
benötigen diese Patienten häufig erneut Unterstützung. Sofern keine anderen Personen (Angehörige, gesetzliche Betreuer) vorhanden sind, fallen diese in die Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes.
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4.2 Fallbeispiele
(Namen, Orts- und Datumsangaben geändert)
4.2.1 Fallbeispiel Demenz
Frau J. wurde am 16.09.2011 unserem Sozialpsychiatrischen Dienst über einen Hinweis des Ordnungsamtes bekannt. Dem Ordnungsamt sei von einer Nachbarin gemeldet worden, dass Frau J. von ihrem Mann und ihrem erwachsenen Sohn verprügelt werde. Der Sohn sei geistig behindert und arbeite in einer Werkstatt für geistig
behinderte Personen. Frau J. selbst, die ca. 75 Jahre alt sei, mache einen verwirrten
und desorientierten Eindruck. Für weitere Hinweise wurde die Mitarbeiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes an die Nachbarin Frau P. verwiesen.
Im Telefonat mit der Nachbarin vom selbigen Tag schilderte diese, dass es schon
seit längerem verbale Auseinandersetzungen in der Familie gebe. Auch habe Frau J.
schon mal bei ihr aus Angst vor häuslicher Gewalt Schutz gesucht.
Vor einigen Tagen habe sich folgender Vorfall ereignet: Frau J. sei wieder am ganzen Körper zitternd in einem verwirrten Zustand draußen herumgelaufen und habe
angegeben, wieder geschlagen worden zu sein. Sie habe nicht mehr gewusst, wo sie
wohnt. Die Nachbarin habe sie dann nach Hause zurück gebracht und mit Herrn J.
Senior gesprochen. Dieser sei abgemagert bis auf die Knochen und habe angegeben, seine Frau nehme ihre Medikamente wegen ihrer Demenzerkrankung nicht immer. Über die Äußerung seiner Frau, dass sie in ein Heim gehen möchte, habe Herr
J. gesagt, dass er das auf keinen Fall wolle, weil dann sein "Haus drauf gehe".
Dieser Vorfall sei Anlass gewesen, dass die Nachbarin sich an die Bezirkspolizei gewandt habe. Die Polizei habe dann das Ordnungsamt hinzugezogen.
Am 19.09.2011 erfolgte ein Hausbesuch von einem Psychiater und einer Sozialarbeiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes.
Der Psychiater diagnostizierte eine ausgeprägte Demenz.
Bezüglich der erwähnten Vorfälle gaben beide unabhängig voneinander befragt an,
dass die Schilderung der Nachbarin so nicht stimme und dass alles in bester Ordnung sei. Auch wolle Frau J. in ihrem häuslichen Umfeld verbleiben. Der ca. 50jährige geistig behinderte Sohn war zu dem Zeitpunkt des Hausbesuches nicht anwesend.
Anschließend erfolgte die psychiatrische und sozialarbeiterische Einschätzung, dass
bei Frau J. aufgrund ihrer schweren demenziellen Erkrankung eine latente Eigengefährdung bestehe, was zur Anregung einer gesetzlichen Betreuung führte.
Am 29.09.11 teilte die Nachbarin unserem Sozialpsychiatrischen Dienst telefonisch
mit, dass Herr J. Senior im Krankenhaus aufgenommen worden sei. Sie habe den
Eindruck, dass Frau J. ohne ihren Mann völlig hilflos sei. So habe Frau J. z.B. nicht
gewusst, wie sie die Haustür aufschließen könne und habe dabei Hilfe gebraucht.
Die Nachbarin habe die Befürchtung, dass Frau J. sich einschließen könnte und
dann nicht mehr in der Lage wäre, die Tür zu öffnen.
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Aus unserer Sicht lag jetzt eine Krisensituation, genauer bezeichnet eine psychiatrische Notfallsituation vor, was sofortiges Handeln erforderlich macht. Aus diesem
Grund erfolgte noch am selben Tag ein Hausbesuch der zuständigen Sozialarbeiterin
und des Psychiaters.
Frau J., die krankheitsuneinsichtig und zu einer realitätsgerechten Einschätzung ihrer
Situation nicht in der Lage war, wehrte sich zunächst gegen eine Krankenhausbehandlung. Sie ließ sich aber schließlich überzeugen, mit den Sanitätern zu fahren,
die zwischenzeitlich hinzugezogen worden waren. Sie wurde in eine nahe gelegene
psychiatrische Klinik eingeliefert.
Außerdem wurde von uns der Sozialdienst der Behindertenwerkstatt über die Krankenhausunterbringung der Eltern informiert. In gemeinsamer Koordination wurde in
Absprache mit behandelnden Ärzten und der Regionalmanagerin des Landschaftsverbands Rheinland eine Unterbringung des Sohnes in einem Wohnheim organisiert,
da dieser Zeit seines Lebens von den Eltern versorgt worden war. Selbständig war er
nicht in der Lage, seinen Tagesablauf zu gestalten und Kontakt zu den Nachbarn
aufzunehmen.
Einen Tag später wurde der Sozialpsychiatrische Dienst darüber informiert, dass
Herr J. Senior verstorben war. Dies und auch die Hintergründe der Krankenhausunterbringung wurde der behandelnden Psychiaterin mitgeteilt. Die Psychiaterin teile
noch mit, dass Frau J. aufgrund ihrer schweren Demenz einen sofortigen Unterbringungsbeschluss gemäß PsychKG § 14 erhalten werde, sollte sie die Station zu verlassen versuchen. Der Sozialpsychiatrische Dienst regte zeitlich für den geistig behinderten Sohn eine Eilbetreuung an mit dem besonderen Hinweis auf die zu organisierende Beerdigung des Vaters mangels weiterer Angehörigen.
Am 09.10.2011 erfolgte die richterliche Anhörung des Sohnes. Dessen gesetzlicher
Betreuer informierte den Sozialpsychiatrischen Dienst, dass heute auch die Anhörung der Mutter stattfinden solle.
Anmerkung:
Anhand dieses Fallbeispiels wird erkennbar, wie leicht Demenzerkrankungen aufgrund der damit verbundenen Hilflosigkeit zu akuter Eigengefährdung führen können,
besonders dann, wenn das soziale Versorgungssystem nicht mehr besteht. Ebenso
kann bei Vorliegen einer geistigen Behinderung in Verbindung mit eingeschränkten
alltagspraktischen Fähigkeiten und einem fehlenden sozialen Netzwerk die sofortige
Hilfe eines aufsuchend arbeitenden Kriseninterventionsdienstes erforderlich sein.
Diese spezielle Form der Hilfe wird im Kreis Euskirchen in der Regel nur vom Sozialpsychiatrischen Dienst geleistet.
Im Verlauf einer demenziellen Erkrankung kann es auch zu Symptomen wie Ängstlichkeit, Getriebenheit und wahnhaften Symptomen sowie Halluzinationen kommen.
Im Nachhinein kann dann nicht mehr beurteilt werden, wie begründet die Hinweise
auf häusliche Gewalt sind.
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4.2.2 Fallbeispiel Burnout
Herr P. wandte sich per E-Mail an den Sozialpsychiatrischen Dienst. Er sei gerade
aus dem Krankenhaus entlassen worden und benötige nachsorgende Hilfe, da er
sich zu Hause überfordert fühle.
Bei Herrn P. handelte es sich um einen 59-jährigen Lehrer, der unter Depressionen
und zeitweiliger Medikamentenabhängigkeit als Folge eines Burnout-Syndroms* litt.
Er hatte eine 12-jährige Tochter und lebte mit seiner dritten Ehefrau zusammen. Er
war in ambulanter psychiatrischer Behandlung, hatte jedoch keine weiteren Hilfen zur
Stabilisierung. Nach Auskunft der Fachklinik, in der er behandelt wurde, leide Herr P.
an einem ausgeprägten Burnout-Syndrom. Die Empfehlung der Klinik war daher die
Beantragung der vorzeitigen Zurruhesetzung.
In einem mehrwöchigen Beratungssetting konnte Herr P. über Entlastungsgespräche
vorläufig stabilisiert werden. Er wurde zudem motiviert, die ambulante psychiatrische
Behandlung fortzusetzen und medikamentös (Antidepressiva) zu unterstützen. Dies
musste jedoch wegen der Rückfallgefahr des Medikamentenmissbrauchs verantwortungsvoll begleitet werden.
Es stellte sich heraus, dass er einen erneuten Arbeitsversuch machen wollte, er hierbei jedoch Hilfen zur Stabilisierung benötigte.
Ein erneuter Antrag auf stationäre Entwöhnungsbehandlung wurde notwendig, da er
sich schon über mehrere Jahre in einem labilen Zustand befand. Es zeigte sich, dass
zur Entwicklung des späteren Burnouts eine sehr frühe, lang anhaltende Überforderung beigetragen hatte. Er konnte zwar viele Jahre stabil bleiben, durch einen Verkehrsunfall sowie den Verlust seiner langjährigen Arbeitsstelle dekompensierte er.
Kurze Zeit später lernte er auch seine jetzige Frau kennen und wurde Vater. Hier
entstand eine erneute Überforderungssituation, die bis heute anhält. Daraus entwickelte sich der Missbrauch von beruhigenden Medikamenten. Es folgten verschiedene Klinikaufenthalte und berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen. Er arbeitete
wieder als Lehrer, hatte es jedoch bisher nicht ausreichend gelernt, mit den Überforderungen und Stresssituationen umzugehen. Daher zeigten sich die bekannten Symptome erneut. Im Beratungssetting zeigte er ausreichend intrinsische Motivation (inneren Anreiz), wieder in das Arbeitsleben zurückzukehren. Der Antrag auf stationäre
Rehabilitation wurde somit gestellt.
Er hatte Sorge nicht rechtzeitig in der Fachklinik aufgenommen zu werden, da er der
häuslichen Situation nicht gewachsen war. Wenn seine berufstätige Ehefrau außer
Haus war, war er oft mit der kränklichen, adoleszenten Tochter alleine. Erschwerend
machte sich Antriebslosigkeit bemerkbar, zudem wurde er zunehmend depressiver
und begann wieder mit leichtem Medikamentenmissbrauch.
Der Sozialpsychiatrische Dienst setzte sich nunmehr dafür ein, möglichst schnell eine
Kostenzusage für die stationäre Entwöhnungsbehandlung zu erhalten. So konnte
schließlich die Aufnahme beschleunigt werden.
* Nach der Beurteilung von Fachärzten ist das "Burnout" keine eigenständige Erkrankung, sondern
setzt sich aus verschiedenen Symptomen zusammen z.B. Depression, Suchtmittelmissbrauch, Schlaflosigkeit, Angststörung etc.
(Siehe auch Dr. Manfred Lütz u.a. Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Chefarzt des AlexianerKrankenhauses in Köln-Porz, zu seinem neuesten Buch "Bluff" in Rhein-Neckar-Zeitung vom 24.09.2012).
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Des Weiteren wurde der Klient beraten und motiviert, eine ambulante Psychotherapie
nach der stationären Behandlung in die Wege zu leiten, um den späteren Arbeitsprozess erfolgreich zu begleiten.
Durch die Unterstützung des Sozialpsychiatrischen Dienstes konnte er wieder in den
Arbeitsprozess eingegliedert und seine familiäre Situation konnte hierüber ebenfalls
stabilisiert werden.
Die Intervention durch den Sozialpsychiatrischen Dienst wurde notwendig, da die
behandelnde Klinik keine entsprechende Nachsorge organisiert hatte. Es zeigt sich
auch, dass bei psychischen Erkrankungen unabhängig von der sozialen Schicht,
schwierige Situationen auftreten können.
4.2.3 Fallbeispiel Psychose
Im Jahr 2008 vereinbaren die Eltern des damals 28-jährigen Herrn Z. erstmalig ein
Angehörigengespräch mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst. Ihr Sohn sei psychisch
erkrankt. Er habe nach der Hauptschule in verschiedenen Betrieben im Lager und in
der Produktion gearbeitet. Eine Ausbildung habe er nicht machen wollen. Eine feste
Freundin habe er einige Jahre gehabt und als die Freundin schwanger wurde seien
beide zusammengezogen. Die Partnerschaft sei ungefähr 1 Jahr nach der Geburt
des gemeinsamen Kindes gescheitert. Die Freundin habe sich dann getrennt und sei
mit dem Kind verschwunden. Ihr Aufenthalt sei unbekannt. Der Sohn sei daraufhin
mit Mitte zwanzig wieder ins Elternhaus gezogen.
Zunächst habe er noch bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen jobben können. Er habe
sich aber zunehmend isoliert und verändert und konnte auch der Erwerbstätigkeit
nicht mehr nachgehen. 2005 sei er dann nach auffälligem Verhalten im Straßenverkehr erstmalig in stationäre mit der Diagnose schizophrene Psychose aufgenommen
und behandelt worden. Nach dem Krankenhausaufenthalt habe Herr Z. nach kurzer
Zeit die Medikamente abgesetzt und sich nicht in fachärztliche nachsorgende Behandlung begeben.
Die aktuelle Situation 2008 schildert die Mutter wie folgt: Ihr Sohn habe keine Krankheitseinsicht und werde Nachbarn gegenüber ausfällig. Er trinke nunmehr Alkohol
und habe kein Einkommen mehr, da er seine Termine beim Jobcenter nicht einhalte.
Er habe Halluzinationen und spreche laut mit imaginären Personen. Einmal habe er
sich die Haare abgeschnitten, ein anderes Mal habe er sich das Gesicht bunt angemalt. Die Eltern wollen versuchen, eine gesetzliche Betreuung beim Amtsgericht zu
beantragen.
Danach bricht der Kontakt zur Familie trotz Nachfrage durch den Sozialpsychiatrischen Dienst erst einmal ab. Später stellte sich heraus, dass die Mitarbeiterin auf einen Anrufbeantworter Rückrufbitten hinterlassen hatte, der defekt war.
Nach fast 2 Jahren wendete sich die Familie 2010 wieder an den Sozialpsychiatrischen Dienst. Die Situation war unverändert; der Sohn hatte keine Krankheitseinsicht
und eine Behandlung war nicht erfolgt. Eine gesetzliche Betreuung konnte nicht angeregt werden, da der Sohn sich weigerte und von der Familie kein Attest beim
Amtsgericht vorgelegt werden konnte, um das Verfahren zu eröffnen.
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Herr Z. hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen, er spracht nicht mit Angehörigen, war körperlich ungepflegt und sein Zimmer war verwahrlost. Er hatte kein Einkommen und wurde durch seine Eltern mit versorgt. Die Situation war für die Angehörigen belastend und angespannt, zudem bestanden wirtschaftliche Probleme. Herr
Z. wurde zu einem Gespräch eingeladen. Da er daraufhin nicht reagierte, erfolgte ein
Hausbesuch. Er war gesprächsbereit und äußerte sich psychotisch, wahnhaft. Seine
Stimmung war wechselhaft und die Gedankengänge zeigten sich abschweifend und
sprunghaft. Ein Krankheits- oder Problembewusstsein fehlten gänzlich. Zudem wurde
jeglicher krankheitsbedingte Hilfebedarf verneint. Er beschrieb nur den Wunsch nach
einer Wohnung und einem Einkommen bzw. einer Arbeit. Über den Wunsch nach einer eigenen Wohnung wurde versucht, die Zustimmung zu einer gesetzlichen
Betreuung zu erreichen, dies gelang leider nicht.
Aufgrund der fehlenden akuten Gefährdung war trotz massiven Krankheitsgeschehens rechtlich kein Eingriff gegen den Willen des Erkrankten möglich. Herr Z. ließ im
Verlauf Vereinbarungen und Folgetermine platzen. Trotzdem wurde ein enger Kontakt zur Familie gehalten, da mit selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten (z.B. aggressiven Ausbrüchen oder Bedrohungen) jederzeit zu rechnen war.
Letztendlich konnte doch noch ein Antrag ohne Zustimmung des Betroffenen auf eine gesetzliche Betreuung gestellt werden, um eine stationäre Behandlung zu ermöglichen.
Zwei Monate nach dem ersten Hausbesuch und persönlichen Kontakt zu Herrn Z.
erfolgte dann der Hilferuf an den Sozialpsychiatrischen Dienst, der eine unmittelbare
Krisenintervention und Prüfung der Notwendigkeit einer sofortigen geschlossenen
Unterbringung in einer psychiatrischen Abteilung nach PsychKG auslöste. Herr Z.
hatte in seinem Zimmer einige Papiere und Abfälle angezündet. Auch wenn durch
den Brand noch kein Schaden entstanden war, war eine Zwangseinweisung aufgrund der bekannten Vorgeschichte, der aktuellen Situation und psychischen Verfassung möglich. Ein Vertreter des örtlichen Ordnungsamtes war bei den Besuchen und
bei der Überprüfung anwesend.
Die Einweisung bedeutete nach Jahren einen Wendepunkt im Verlauf der Erkrankung. Im Anschluss an die Behandlung in einer geschlossenen Abteilung war eine
Weiterbehandlung auf einer offenen psychiatrischen Station möglich. Behutsam ließ
sich für das laufende Betreuungsverfahren ein Einverständnis erzielen, so dass die
Bestellung eines gesetzlichen Betreuers noch während der stationären Behandlung
erfolgen konnte. Herr Z. konnte nach einem 9-wöchigen Krankenhausaufenthalt in
eine eigene Wohnung im Rahmen von betreutem Wohnen für Menschen mit psychischer Behinderung ziehen. Über Monate hinweg entwickelte sich bei Herrn Z. eine
Akzeptanz gegenüber der Erkrankung und eine Einsicht in die Notwendigkeit von
ärztlicher, medikamentöser und persönlicher Unterstützung. Maßnahmen zur beruflichen Integration konnten nun folgen.
Der Sozialpsychiatrischer Dienst ist verpflichtet, bei Bedarf aufsuchend zu arbeiten.
Er darf aber keine ambulante medikamentöse Behandlung durchführen. Das geschilderte Beispiel zeigt die lange Zeitspanne, bis die Behandlung einer Psychose möglich wird.
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4.2.4 Fallbeispiel Krise, psychosoziale Problematik
Herr K., 56jährig, wurde dem Sozialpsychiatrischen Dienst vom Jobcenter gemeldet.
Herr K. war dort seit Längerem als Arbeitslosengeld II-Empfänger bekannt. In den
letzten Monaten fiel er dadurch auf, dass er zunehmend gereizt im Jobcenter vorstellig wurde. Er sei den Angestellten im Jobcenter gegenüber sehr vorwurfsvoll gegenüber getreten und habe beim Verlassen des Jobcenters gesagt, "dann könne man
sich ja gleich erhängen". Die Meldung des Jobcenter erfolgte nunmehr aus Sorge
aufgrund der letztgemachten Bemerkung. Herr K. wurde unmittelbar nach der Meldung per Telefon kontaktiert. Er nahm das Angebot eines unmittelbaren Beratungsgespräches am Meldetag an.
Soziale Anamnese:
Herr K. war von 1978 bis 2001 verheiratet. Er hat einen Sohn, zu dem nur noch gelegentlich Kontakt besteht. Früher hatte er viele Sozialkontakte im Rahmen seiner
beruflichen Tätigkeit. Nach der Trennung von seiner Ehefrau hatte er noch einige
kurzzeitige Beziehungen. Zum Zeitpunkt des Gesprächs bestand keine Partnerschaft, lebte allein und hatte wenig Sozialkontakte.
Berufsanamnese:
Realschulabschluss, abgeschlossene kaufmännische Ausbildung mit anschließender
Tätigkeit in einem Warenhaus, zuletzt als Abteilungsleiter bis 1997.
Seit 1998 war er als Handelsvertreter tätig und hatte bis 2008 dreimal den Arbeitgeber gewechselt. Während seiner letzten Tätigkeit war er viel mit dem Pkw unterwegs
und musste oft in anderen Städten übernachten. Seit 2008 war er arbeitslos, seit
2010 Arbeitslosengeld II-Empfänger.
Körperliche Vorerkrankungen:
Er erlitt 2006 einen Herzinfarkt, 2007 ereignete sich ein Bandscheibenvorfall und seit
über 10 Jahren bestanden Wirbelsäulenbeschwerden,
Psychiatrische Vorerkrankungen:
Er gab an, noch nie psychiatrisch behandelt worden zu sein. Ernsthafte psychiatrischen Vorerkrankungen waren nicht bekannt. Ein Selbstmordversuch war noch nicht
vorgekommen.
Zusammenfassung der weiteren Angaben:
Herr K. berichtete, dass er sich mit seiner Ehefrau und seinem Sohn auseinander gelebt habe. Die Trennung sei im Einvernehmen gewesen. Aufgrund seiner letzten Tätigkeit sei er viel unterwegs und habe arbeitsbedingt viele Sozialkontakte gehabt. Er
habe in der Zeit auch ganz gut Geld verdient und habe zu Leben verstanden.
Bedingt durch die körperlichen Erkrankungen sei es 2006 und 2007 zu längeren
Krankheitszeiten gekommen. Er ging davon aus, dass aus diesem Grund sein letzter
Arbeitsvertrag nicht verlängert wurde.
In der Arbeitsvermittlung habe man ihm dann mitgeteilt, dass er alters- und krankheitsbedingt für nicht mehr vermittelbar gehalten werde.
Trotz vieler Bemühungen habe er keine Anstellung mehr gefunden. Zunächst habe
er durch Erspartes noch etwas Geld gehabt. Nun müsse er nur jedoch von Arbeitslosengeld II leben. Er fühle sich dadurch sehr eingeschränkt und dies sei auch der
Grund für die wenigen Sozialkontakte. Die zunehmende finanzielle Knappheit belaste
ihn sehr.
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Er war sehr gekränkt durch seinen Status als "Sozialhilfeempfänger" und fühlte sich
durch das Verhalten der Mitarbeiter des Jobcenters als Bittsteller. Er gab an, dass
seine derzeitige Situation nur schwer zu ertragen sei und dass er suizidale Gedanken
habe, ohne konkrete Planung. Die gemachten Äußerungen im Jobcenter seien in Erregung erfolgt.
Psychischer Befund:
Zeitlich, örtlich, situativ und zur Person war Herr K. voll orientiert. Die Auffassung und
die Konzentration waren ausreichend. Die Stimmung war sehr depressiv und zum
Teil im Gespräch auch sehr angespannt. Der Antrieb war leicht gemindert. Der Gedankengang war durch Grübeln geprägt. Psychotischen Symptome konnten nicht
festgestellt werden. Er wirkte sehr gekränkt mit Selbstmordgedanken. Glaubhaft
konnte er sich von akuter Eigen- und Fremdgefährdung distanzieren.
Interventionsverlauf:
Es erfolgte am Meldetag ein ärztliches Krisengespräch zur Entlastung für den Klienten und zur Beurteilung der Suizidalität. Zwei Tage später erfolgte ein zweites ärztliches Gespräch, weitere erfolgten anschließend mit größeren Abständen bis Herr K.
in eine Institutsambulanz vermittelt werden konnte.
4.2.5 Fallbeispiel "Verwahrlosung"
Herr L. wurde vom Sozialpsychiatrischen Dienst aufgesucht, nachdem der Nachbar
und Hausverwalter um Intervention bat.
Der 76jährige Mann wohnte alleine in einer Eigentumswohnung in einem Hochhaus.
Verwandte und Freunde waren nicht bekannt. Infolge einer Knieoperation war er
stark gehbehindert und konnte sich nur mit Gehstöcken fortbewegen. Der
Hausverwalter hatte nach einem vermeintlichen Wasserrohrbruch Zutritt bekommen
und eine völlige Verwahrlosung angetroffen.
Beim Hausbesuch bestätigte sich dieses Bild (siehe Fotos auf Seite 27). Es war nur
mit Schutzkleidung möglich, sich einen Weg zu Herr L. zu bahnen. Der Weg führte
durch einen mit verschimmelten Lebensmitteln, Müll und Exkrementen zugestellten
Flur mit extremer Geruchsbildung. Ungeziefer war bereits vorhanden, welches sich
bei der warmen Innen- und Außentemperatur im Frühsommer hätte schnell weiter
vermehren können. Das Bad war aufgrund der extremen Verschmutzung nicht mehr
benutzbar und die Toilettenverstopfung zeigte sich schließlich als Ursache für den
entstandenen Wasserschaden. Er selbst befand sich im hinteren Bereich der Wohnung, in einem ebenfalls verwahrlosten Wohnzimmer und auf einem völlig verschmutzten Sofa, welches ihm auch als Bett diente. Er gab an, schon lange nicht
mehr eingekauft zu haben und sich von Konserven und herumliegenden Lebensmitteln ernährt zu haben, deren Haltbarkeit deutlich überschritten war.
Es wurden daraufhin das Ordnungsamt und die Hygienekontrolleure der Abteilung
Gesundheit informiert. Das Ordnungsamt stellte zwar die Unbewohnbarkeit der Wohnung fest, dem Klienten konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt keine passende Alternative angeboten werden.
Herrn L wurde die Hilfe des Sozialspychiatrischen Dienstes angeboten, dies lehnte er
jedoch ab. Er zeigte sich anfangs uneinsichtig dahingehend, dass diese Lebensumstände unwürdig und sogar gesundheitsgefährdend seien. Erst nach einem längeren
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Gespräch gelang es, Herrn L. zum Verlassen der Wohnung zu bewegen. Aufgrund
seines schlechten Allgemeinzustandes, der Gehbehinderung und einer vermuteten
psychischen Erkrankung wurde er in die psychiatrische Abteilung des zuständigen
Krankenhauses eingewiesen.
Herr L. war nicht mehr in der Lage, sich und seine Lebenssituation realistisch einzuschätzen. Er konnte seinen Alltag nicht mehr bewältigen und die Versorgung war
nicht mehr gewährleistet. Es gab keine Verwandten oder Bekannten die sich um ihn
hätten kümmern können. Daher wurde vom Sozialspychiatrischen Dienst, gegen seinen Willen, eine gesetzliche Betreuung beantragt. Dieses Verfahren zeigte sich besonders schwierig, da sich die diagnostische Einschätzung als problematisch zeigte
und eine „Diagnose Verwahrlosung" alleine nicht ausreicht, um eine gesetzliche
Betreuung zu rechtfertigen. Schließlich konnte sie dennoch eingerichtet werden.
Deutlich wurde bei diesem Fall, dass keine andere Behörde oder Institutionen die Situation hätte lösen können. Die Notwendigkeit der Intervention des Sozialpsychiatrischen Dienstes wurde im Nachhinein bestätigt. Es bestand nicht nur Eigen- sondern
auch Fremdgefährdung, da bei Herrn L. eine funktionstüchtige, durchgebohrte Pistole gefunden wurde. Herr L. hatte sich Zeit seines Lebens kein eigenes Leben aufgebaut, sondern nur mit seiner Mutter, bis zu deren Tode, zusammengelebt. Aus der
Zeit dieses Zusammenlebens wurden die ältesten Lebensmittel in der Wohnung, aus
den siebziger Jahren, gefunden worden.
Der gesetzliche Betreuer hat schließlich die Wohnung entmüllen lassen und Herr L.
in einem Seniorenheim untergebracht, dennoch zeigte er sich weiterhin sehr uneinsichtig und nicht kooperativ.
Später wurde eine weitere Waffe sichergestellt, die er im Seniorenheim in seinem
Schrank versteckt hatte. Zudem wurde ein großes Vermögen bekannt.
27
Abb.5
28
5. Schlussbemerkung
In dem vorliegenden Bericht ist die komplexe Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes und die Notwendigkeit hoher Flexibilität beschrieben worden. Besonders sei noch
einmal auf die Spannungsfelder Recht auf Selbstbestimmung, dem Schutzbedürfnis
der Gesellschaft und auf die Erwartungen der Melder sowie die gesetzlichen Möglichkeiten, die dem Sozialpsychiatrischen Dienst offen stehen, hingewiesen. Zu erwähnen ist ebenso die Unterscheidung zwischen krankheitsbedingtem und kriminellem Verhalten, Freiheit zum Anderssein und Toleranz der Gesellschaft.
Die vorliegenden Ausführungen zeigen auch Ursachen für die steigenden Fallzahlen
auf, wie z.B. der Wegfall anderer Hilfen, lange Wartezeiten im ambulanten Gesundheitssystem, kürzere Verweildauer in Krankenhäusern und das zunehmende Alter in
der Gesellschaft (demografischer Wandel).
Aufgrund der steigenden Fallzahlen ist es nicht immer möglich, dass zu allen Meldungen ein zeitnaher persönlicher Kontakt erfolgt. Erforderlich ist daher, dass täglich
neue Prioritätsentscheidungen getroffen werden müssen. Oft steht leider die Zeit für
eine vor- und nachsorgende Hilfe, wie im PsychKG gefordert, nicht zur Verfügung.
Eine kompetente Intervention mit vor- und nachsorgender Hilfe hat jedoch erheblichen Einfluss auf die Prognose für die soziale Integration der Betroffenen.
Wünschenswert ist Zeit zu einer Hilfeleistung, die die Ursache der Krise beseitigen
oder mindern kann. Wünschenswert wäre auch eine beratende Tätigkeit von Betroffenen, Angehörigen und dem sozialen Umfeld, die häufig gegenüber der Akutintervention zurücktreten muss.
Insofern ist in den letzten Jahren eine Entwicklung zur Akuthilfe mit gesteigertem
Zeitdruck und Arbeitsaufwand in einem rechtlich schwierigem Umfeld für die Mitarbeiter/innen des Sozialpsychiatrischen Dienstes zu beobachten.
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Ansprechpartner:
Marlies Rank, Sekretariat des Sozialpsychiatrischen Dienstes
Herr Andreas Korth, Facharzt für Psychiatrie
Birgit Beck, Diplom-Sozialarbeiterin
Rosemarie Kastrau, Diplom-Sozialarbeiterin
Isabell Leonhard, Diplom-Sozialpädagogin
02251/15-466
02251/15-465
02251/15-481
02251/15-492
02251/15-479