Daten
Kommune
Pulheim
Größe
390 kB
Datum
09.03.2017
Erstellt
27.02.17, 09:34
Aktualisiert
27.02.17, 09:34
Stichworte
Inhalt der Datei
Vorlage Nr.:
49/2017
Erstellt am:
09.02.2017
Aktenzeichen:
Mitteilungsvorlage
Gremium
Jugendhilfeausschuss
TOP
ö. Sitzung
X
nö. Sitzung
Termin
09.03.2017
Betreff
Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII
Mitteilung
Eingliederungshilfe nach §35a SGB VIII
(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung
zu erwarten ist.
Die Abweichung von der seelischen Gesundheit wird durch die im Gesetz festgelegten Fachärzte festgestellt.
Die Teilhabebeeinträchtigung wird durch die Mitarbeiter/innen der Jugendhilfe festgestellt. Diese muss kausal
mit der in Absatz 1 festgestellten Abweichung von der seelischen Gesundheit zusammenhängen, sich dadurch
bedingen. Der LVR hat in seiner Arbeitshilfe einen Diagnosebogen zur Verfügung gestellt, der bei dieser Feststellung hilfreich ist.
Wenn ein Antrag auf Eingliederungshilfe beim Jugendamt eingeht, wird zunächst die örtliche Zuständigkeit
geprüft. Liegt diese vor, wird im zweiten Schritt die sachliche Zuständigkeit geprüft. Hier geht es um die Abgrenzung zu den anderen Kostenträgern der Eingliederungshilfen: Krankenkassen, örtliche Sozialhilfeträger,
überörtliche Sozialhilfeträger und Rehabilitationsträger der Arbeitsagenturen. Für die Prüfung und ggf. Weiterleitung der Antragsunterlagen an den zuständigen Träger sieht das Gesetz eine Frist von zwei Wochen vor. Ist
das Jugendamt bereits der zweitangegangene Träger, also wurden die Unterlagen z.B. durch den LVR an das
Jugendamt weitergeleitet, ergibt sich daraus eine automatische Pflicht zu Prüfung des Antrages auf der gesetzlichen Grundlage des ggf. tatsächlich zuständigen Trägers. Wird dann eine Hilfe bewilligt, so können die
Kosten bei dem eigentlich zuständigen Träger rückwirkend im Rahmen von Kostenerstattung geltend gemacht
werden.
Die Frage der Abgrenzung zwischen den einzelnen Kostenträgern ist oft sehr strittig. Mitunter werden diese
Entscheidungen vor dem Verwaltungsgericht entschieden. In den wenigen Fällen, die für die Stadt Pulheim
vor dem Verwaltungsgericht entschieden wurden, obsiegte die Stadt, so dass Kostenerstattung in erheblicher
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Höhe vermieden werden konnten, bzw. kostenträchtige stationäre Hilfen an den LVR abgegeben werden
konnten.
Typische Störungsbilder seelischer Behinderung
Die größte Gruppe der Klienten hat eine Diagnose im Autismus Spektrum. So erhalten zum Stichtag
31.12.2016 15 Klienten eine autismusspezifische Therapie. Das sind neun mehr als im Dezember 2015. In der
Mehrzahl der Fälle wird die Hilfe durch spezialisierte Träger, wie z.B. Autismus Köln Bonn e.V. geleistet. Aber
auch andere Träger z.B. in Düren werden belegt, da die Nachfrage sehr groß ist und die Klienten oft viele
Monate warten müssen. In dieser Zeit wird die Not in den Familien immer größer, da sie oft einen langen Weg
hinter sich haben, bevor sie überhaupt eine Diagnose für die Probleme der Kinder erhalten haben.
In den vergangenen Jahren sind die Diagnoseverfahren in diesem Bereich wesentlich verbessert worden. So
wurden früher viele autistische Menschen schnell der Gruppe der geistig behinderten zugeordnet, die heute
ihre Intelligenz nicht aberkannt bekommen. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die nicht geheilt werden kann. Sehr wohl kann durch eine spezifische Verhaltenstherapie aber erreicht werden, dass diese
Menschen einen Alltag meistern können, ggf. alleine leben können und sogar einem Beruf nachgehen können.
Auch hier gilt natürlich, je früher die Förderung einsetzt, desto besser kann der Erfolg sein. Die Beratung und
Begleitung der Eltern ist fester Bestandteil einer solchen Hilfe / Therapie, je jünger die Kinder desto intensiver.
Auch werden die Schulen durch die erfahrenen Therapeuten beraten, wie das dortige Umfeld gestaltet werden
kann, um den Schulbesuch, wenn möglich, ohne zusätzliche Hilfe zu meistern. Nicht zuletzt kann auch mit den
Mitschülern gearbeitet werden, um Missverständnissen zu begegnen und somit eine Teilhabe am Klassenverband trotz der Besonderheiten zu ermöglichen.
Auch die meisten Kinder und Jugendlichen, die eine Schulassistenz erhalten - im Dezember 2016: 23 Hilfeplanverfahren, ein Plus von drei zu Dezember 2015 - sind im Autismus Bereich einzuordnen.
Das exemplarische Fallbeispiel eines autistischen Mädchens:
Nalan ist eine vierzehnjährige Jugendliche, die ein Pulheimer Gymnasium besucht. Fast alle ihrer Klassenkameradinnen sind bereits im Vollbild der Pubertät, Nalan spielt noch mit Playmobil und ihren Barbiepuppen.
Wenn ihre Mitschülerinnen über Jungs und erste romantische Gefühle reden, steht sie außen vor und kann
nicht mitreden. Wenn Paararbeit ansteht oder eine Gruppenarbeit geplant wird, will niemand mit Nalan zusammenarbeiten, da sie „seltsam“ ist. Sie nimmt alles wörtlich und versteht keine Scherze. Ironie und Sarkasmus sind für die meisten Menschen mit Autismusspektrumsstörung ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre eigenen
Äußerungen sind so ehrlich, dass sie vom Umfeld oft als beleidigend gewertet werden. Es ist fast, als spräche
man verschiedene Sprachen.
Zusätzlich fällt es Nalan sehr schwer, die Sinneseindrücke, die auf sie einstürmen, zu sortieren. Sie kann den
Anweisungen des Lehrers oft nicht nachkommen, weil diese für sie im Stimmengewirr untergehen. Wichtig von
unwichtig zu unterscheiden braucht bei ihr immense Kraftanstrengung, die ihr im Verlauf eines Schultages
immer schlechter gelingt. Oft verbringt sie die beiden letzten Schulstunden alleine im Differenzierungsraum, da
sie es in der Klasse nicht mehr schafft.
Das grenzt sie zusätzlich aus, in den Augen der anderen erhält sie immer eine Extrabehandlung. Auch bekommt sie hier natürlich nicht mit, was an Stoff in der Klasse erarbeitet wird. In den Pausen steht Nalan alleine
oder verbringt die Zeit in der Bibliothek. Sie wünscht sich eine Freundin. Sie wünscht sich, ein Teil der Klasse
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zu sein, bei Gruppenarbeiten nicht immer vom Lehrer zugeteilt werden zu müssen. Sie will nicht anders sein
und immer aus dem Rahmen fallen.
Nach eingehender Prüfung erhält Nalan eine Schulassistenz (Integrationshelfer), die sie im Schulalltag begleitet und unterstützt, die zwischen ihr und den anderen übersetzt und vermittelt, die ihr hilft Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, die sie darin unterstützt, dem Stoff zu folgen und Teil der Klasse zu werden. Weiter wird sie darin gefördert, ihre Stärken und ihre durchschnittliche Intelligenz im Alltag zu erleben und anzuwenden. Die Eltern werden beraten, wie sie ihre Tochter stützen, ihren Versagensängsten begegnen und ihren sozialen Rückzug bremsen können. Auch die Schule kann im Rahmen der Eingliederungshilfe Unterstützungsangebote erhalten: Qualifizierung von Lehrern für die Belange des konkreten Kindes sowie die Sensibilisierung von Mitschülern können Teil der im Hilfeplan verabredeten Schritte sein.
Lerntherapien bei Teilleistungsstörungen
Seit Jahren gleichbleibend ist die Zahl der Kinder, die eine Lerntherapie erhalten (Dezember 2015 und 2016
jeweils 22 Hilfeplanverfahren). Hier wird in zwei Bereiche unterteilt: Dyskalkulie und Lese- Rechtschreibstörung.
Kinder mit Dyskalkulie sind im Alltag eingeschränkt. Je nach Ausprägung können sie keine Uhr lesen, nicht mit
Geld umgehen, trauen sich nicht, einkaufen zu gehen, auch nicht mit den Freundinnen im Einkaufszentrum.
Sie schaffen es oft nicht Fahrpläne zu lesen oder sich gut zu orientieren. Diese Kinder gehen ungern alleine
aus dem Haus, haben Angst sich zu verlaufen. Wenn sie einen Kuchen backen wollen, haben sie keine Ahnung, was 250g oder 300ml sind. Sie fangen gar nicht erst an, wagen sich an solche Aufgaben nicht heran.
Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung können schlecht oder in extremen Fällen selbst in der fünften Klasse
nahezu gar nicht lesen. Sie können weder die Textaufgabe in Mathematik noch den Text im Biologiebuch
selbstständig sinnentnehmend lesen. Sie schreiben Texte, die, wenn sie lesbar sind, vor Fehlern strotzen. Oft
sind sie nicht bewertbar, weil nicht erkennbar ist, was geschrieben und gemeint ist.
Bei Gruppenarbeiten z.B. lesen diese Kinder nie die Aufgabenstellung vor – sie haben Angst ausgelacht zu
werden. Sie schreiben auch nie das Plakat, aus Angst, dass die anderen Kinder merken, dass sie gar nicht
schreiben können. Beide Gruppen ziehen sich oft zurück und leiden still oder kompensieren ihre Defizite mit
aggressivem Verhalten. In beiden Fällen sind sie ausgegrenzt, durch sich selbst oder durch die anderen.
Ein/e Lerntherapeut/in/ arbeitet mit den Kindern an den Ursachen. Sie beraten die Eltern, wie sie mit den Versagensängsten und dem sozialen Rückzug der Kinder umgehen können, wie sie ihre Kinder stärken können.
Und sie bieten interessierten Lehrern Beratung und Kooperation an.
Dyskalkulie und Lese- Rechtschreibstörungen sind nicht heilbar aber durch eine Lerntherapie durchaus so
verbesserbar, dass die Beeinträchtigungen im Alltag zumindest gemindert werden. Durch die Therapie können
die Kinder und deren Familien lernen mit den behinderungsbedingten Folgen besser umzugehen.
Die Hilfeplanung findet in der Regel in der Schule statt, um so eine Vernetzung zwischen Schulunterricht und
Lerntherapie zu erreichen. Die Schulen haben im Vorfeld der Hilfe alle ihre Möglichkeiten der allgemeinen und
besonderen Förderung ausgeschöpft und dies über Schulamt und Bezirksregierung nachgewiesen (Vorrang /
Nachrang). Hier kann die Kooperation mit den Lerntherapeutinnen auch den Schulen helfen, neue Angebote
für diese Kinder und Jugendlichen zu entwickeln und den Nachteilsausgleich individuell zu gestalten. Grundvoraussetzung ist hier natürlich die Bereitschaft aller Beteiligten zur Zusammenarbeit.
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Bewertung:
Die beschriebenen Störungsbilder, sowie die daraus folgenden Maßnahmen machen deutlich, wie verwoben
die Eingliederungshilfe mit der Gesundheitshilfe aber auch mit schulischen Fördermaßnahmen ist. Es ist ein
Spezifikum mit erheblicher finanzieller Auswirkung, dass Therapien in diesen Fällen über kommunale Jugendhilfemittel, und nicht über das SGB V bzw. die Krankenversicherung getragen werden. Nach den Buchstaben
des Gesetzes ist es lediglich Aufgabe der Jugendhilfe, die Teilhabebeeinträchtigung von seelisch behinderten
Kindern zu reduzieren – Allerdings resultiert diese natürlich aus der jeweiligen Störung. Die Abgrenzungen
zwischen medizinisch/ therapeutischen, schulischen und Jugendhilfeaufgaben wirken entsprechend oft recht
konstruiert.
Stationäre Eingliederungshilfe
Eine kleinere Gruppe im Fallbestand des Jugendamtes Pulheim bilden die stationären Unterbringungen im
Rahmen der Eingliederungshilfen.
Bei den stationären Hilfen handelt es sich in der Regel um sehr kostenintensive Hilfen, bei denen die jungen
Menschen teilweise bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres über die Jugendhilfe zu versorgen sind. Da es
sich hierbei um junge Menschen mit massiven Auffälligkeiten handelt, z.B. junge Menschen mit
Esstörungen
Autismusspektrumsstörungen
drogenindizierten Psychosen
anderen schwerwiegenden seelischen Behinderungen,
sind die meist hochspezialisierten Einrichtungen, in denen diese jungen Menschen leben können, sehr teuer.
Fiktives, exemplarisches Fallbeispiel eines jungen Erwachsenen
Tobias hat 06/2009 zum ersten Mal Kontakt zum Jugendamt Pulheim im Rahmen von familiengerichtlicher
Beteiligung als er dreizehn Jahre alt ist. Er ist überdurchschnittlich intelligent und besucht die Realschule. Er
hat ADHS. Zuvor war er mehrmals stationär und ambulant in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, da er bereits
im Kindergarten sozial auffällig war. Seine Eltern leben zu diesem Zeitpunkt getrennt. Tobias will, dass beide
Eltern für ihn die Verantwortung tragen. Sie sollen vernünftig miteinander reden, er wolle keinen aus der Verantwortung lassen.
Anders als von Tobias erhofft, eskaliert aber der Elternkonflikt und wird viele Jahre auf hohem Streitlevel bleiben. Gemeinsame Vermittlungsgespräche finden nicht statt oder enden in gegenseitigen Vorwürfen und Beschuldigungen. In Folge verschlechtert sich Tobias Verhalten deutlich. Er bedroht in der Schule andere Kinder.
Es besteht der Verdacht, dass Tobias Drogen nimmt und Alkohol trinkt. Immer wieder ist er tageweise abgängig von zuhause, die Mutter stellt regelmäßig Vermisstenanzeigen. Eine Einzelfellhilfe (HzE) wird eingerichtet.
Tobias muss die Realschule aufgrund seiner schlechten Leistungen und besonders des Sozialverhaltens verlassen. Er wechselt auf die Hauptschule. Auch hier fällt er schnell massiv auf und ein Ausschluss wird überlegt. Kurz darauf wechselt er in eine Förderschule, die er so gut wie nie besucht.
Tobias wird straffällig (Räuberische Erpressung), um Drogen (Cannabis und Amphetamine) kaufen zu können.
Er begeht Körperverletzungen. Die Eltern bekämpfen sich weiter gegenseitig. Die Jugendhilfe im Gerichtsverfahren wird ebenfalls tätig. Die Dienste kooperieren eng miteinander. Tobias begeht einen Raubüberfall. Die
Schule verweigert Tobias mittlerweile komplett. Im November 2011 wird psychiatrisches Gutachten wird in
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Auftrag gegeben. Der IQ von Tobias ist nun im unteren Durchschnittsbereich. Im Dezember 2011 wird er zu 14
Tagen Jugendarrest verurteilt.
Es wird deutlich, dass die ihm und seiner Familie gewährten Hilfen zur Erziehung nicht greifen u.a. weil Tobias
nichts lange durchhält, vieles abbricht oder von Trägern der Einrichtung verwiesen. Auch verbringt er immer
wieder Zeit in der offenen oder geschlossenen Psychiatrie, macht einen Drogenentzug in einer geschlossenen
Klinik.
Im Juli 2012 wird Tobias in einem Kriseninterventionszentrum der Jugendhilfe aufgenommen. Dort zeigt sich,
dass er eine drogenindizierte Psychose entwickelt hat. In einer Krise, in der er sich selbst und andere gefährdet wird er per Beschluss in der Psychiatrie untergebracht. In der Klinik werden eine ausgeprägte hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, eine Polytoxikomanie sowie eine hebephrene Schizophenie diagnostiziert.
In klaren Phasen sagt Tobias immer wieder, dass er wie ein normaler Jugendlicher leben wolle.
Im Oktober 2012 zieht Tobias in eine spezialisierte Wohngruppe ein. Der Tagessatz beträgt 372,05 Euro. Die
Unterbringung erfolgt erstmalig nach §35a SGB VIII – Eingliederungshilfe. Die Hilfe richtet sich nun nur noch
an den Klienten selbst. Die Voraussetzungen nach §35a SGB VIII liegen vor. Eine Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft ist in keinem Teilbereich gegeben. Mit Tobias müssen die einfachsten Regeln des Zusammenlebens neu erarbeitet und eingeübt werden. Das Intelligenzniveau ist jetzt unterdurchschnittlich im Bereich einer
Lernbehinderung. Schule ist für ihn negativ besetzt, so dass auch an dieser Thematik intensiv gearbeitet werden muß. Nachdem es in der Schule nur begrenzt für Tobias möglich war, weiter an sich zu arbeiten, wird er in
der Jugendwerkstatt angebunden. Er erhält ambulante Therapie und nimmt regelmäßig seine Medikamente.
Tobias ist sehr antriebsarm. Er hat eine kurze ruhige Phase, die nicht lange hält. Er nimmt wieder Drogen und
wird erneut straffällig.
In der Folge werden weitere Hilfen installiert, Tobias geht erneut in die Kinder- und Jugendpsychiatrie teilweise
freiwillig, teilweise mit Beschluss. Im Sommer 2014 wird er volljährig, die Jugendhilfe endet zunächst. Im
Sommer 2015 kontaktiert der gesetzliche Betreuer von Tobias das Jugendamt und berichtet, dass dieser sich
freiwillig in der Erwachsenenpsychiatrie befinde, da er einen Krankheitsschub habe. In der Klinik wird er stabilisiert und medikamentös eingestellt. Eine vollstationäre Betreuung wird seitens der Klinik angeregt. Er sei auf
keinen Fall in der Lage sich selbst zu versorgen, habe weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung. Eine Rückkehr zu den Eltern sei nicht gut für ihn und er lehne diese auch ab.
Nach Entlassung aus der Erwachsenpsychiatrie wird Tobias mit einem Tagessatz von 199,48 Euro in einer
spezialisierten Einrichtung aufgenommen. Das Haus liegt auf dem Land, weg von zu vielen Sinneseindrücken.
Dort erarbeitet und übt man mit Tobias, wie er seinen Alltag leben kann. Mittlerweile schafft er es, eine Tagesstruktur einzuhalten. Sein Ziel ist es in das nächste Haus zu wechseln, in dem mehr Eigenverantwortung von
den Bewohnern eingefordert wird. Er ist auf einem guten Weg dorthin, macht Fortschritte, aber es ist noch ein
weiter Weg. Die Hilfe wird im Rahmen von §35a SGB VIII i.V. mit §41 SGB VIII bewilligt. Solange noch Fortschritte zu erzielen sind, wird die stationäre Unterbringung bis zu Vollendung des 27. Lebensjahres weiter über
die Jugendhilfe laufen. Erst dann kann sie aufgrund der Erreichung der Altersgrenze an den LVR übergeben
werden.
Bewertung
An diesem Beispiel wird deutlich, wie verwoben „Hilfen zur Erziehung“ mit der Eingliederungshilfe sein können.
Viele seelische Behinderungen, sind im Kinder- und Jugendalter verstärkt bzw. erworben worden. Insbesondere (frühkindlicher) Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung, nicht ausreichend behandelte Erkran-
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kungen, massive Loyalitätskonflikte durch hochstrittige Trennungen usw. können v. A. hyperkinetische Störungen, Borderlineerkrankungen, Bindungsstörungen, Delinquenz und Substanzmittelmissbrauch begünstigen, die dann in einem Vollbild seelischer Behinderung münden.
In der Lebensbiographie eines seelisch behinderten Kindes / Jugendlichen gibt es neben der grundsätzlichen
Zuständigkeit der Gesundheitshilfe verschiedene zuständige Rehabilitationsträger:
Alter
0 – 5 Jahre
Leistung
Ambulante Hilfe
stationär
6 – 18 Jahre
Stationär und ambulant
19 – 27 Jahre
Stationär und ambulant
Zuständigkeit
Örtlicher Sozialhilfeträger
Überörtlicher Sozialhilfeträger
Jugendhilfeträger
Gesetzliche Grundlage
SGB XII in V. mit SGB
IX
SGB XII in V. mit SGB
IX
SGB VIII in V. mit SGB
IX
Jugendhilfeträger*
SGB VIII in V. mit SGB
*So lange Entwicklungen IX
erkennbar sind
Überörtlicher Sozialhil- SGB XII in V. mit SGB
feträger*
IX
*Wenn die Entwicklung
dauerhaft stagniert
Ab 28
Stationär und Ambulant
Überörtlicher Sozialhil- SGB XII in V. mit SGB
feträger
IX
Beim Wechsel der Hilfe in einen anderen Zuständigkeitsbereich, entstehen in der Regel Reibungsverluste da,
SGB XII und SGB VIII unterschiedliche Behinderungsbegriffe, unterschiedliche Verfahren und eine unterschiedliche Trägerstruktur haben. Ein Hilfeplangespräch nach § 36 SGB VIII – zentrales Steuerungselement in
der Jugendhilfe – ist bspw. im SGB XII nicht vorgesehen. Das SGB IX sowie das neue Bundesteilhabegesetz
verfolgen das Ziel, diese Reibungsverluste zu minimieren und die Kooperation der Sozialhilfeträger zu verbessern. In der Praxis haben die Rehabilitationsträger allerdings insbesondere im Rahmen strittiger Zuständigkeiten miteinander zu tun.
Weitergehendes politisches Ziel ist es seit langem, im Rahmen der sogenannten „Großen Lösung“ die Zuständigkeit aller – auch der körperlich und geistig behinderten - Kinder und Jugendlichen im SGB VIII und damit in
der kommunalen Jugendhilfe zu realisieren.
Weitere Hilfeformen:
Teilstationären Hilfen (zurzeit drei Hilfeplanverfahren)
o Zum Beispiel die Beschulung in Privatschulen mit angeschlossener therapeutischer Begleitung in den Nachmittagsstunden.
Hilfen für junge Volljährige in Verbindung mit Eingliederungshilfe (zurzeit insgesamt drei Hilfeplanverfahren)
o Betreutes Wohnen in der eigenen Wohnung / in einer WG in Form von Fachleistungsstunden.
Sonderhilfen, wie z.B. die Wegbegleitung zur Berufsschule, wobei der Schulbesuch ohne Unterstützung gemeistert werden kann. (zurzeit ein Hilfeplanverfahren)
FuD – Familien unterstützender Dienst
In der Regel durch die Pflegeversicherung abgedeckt, in Ausnahmefällen über die Jugendhilfe zu bewilligen (zurzeit kein Hilfeplanverfahren)
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Freizeitbegleitung in Form von wenigen Fachleistungsstunden, um junge Menschen z.B. in einem
Sportverein anzubinden. (zurzeit 8 Hilfeplanverfahren)
Ausblick
Bundesweit ist festzustellen, dass das Fallaufkommen und die Kosten je Fall in der Eingliederungshilfe für
seelisch Behinderte steigen. Bemerkenswert ist, dass insbesondere Kommunen mit unterdurchschnittlicher
sozialer Belastung, besondere Kostendynamik zu verzeichnen haben. Während der Anteil an SGB II Bezug
mit hohen Kosten für Hilfen zur Erziehung korreliert, ist das Verhältnis bei den Eingliederungshilfen genau
umgekehrt. Eine gute Kinder- und Jugendpsychiatrische Versorgung ist ebenfalls Indikator für steigende Eingliederungshilfen, denn entsprechende Diagnosen sind Anspruchsvoraussetzung. Vieles spricht dafür, dass
auch das Jugendamt Pulheim in Zukunft mit weiter steigenden Anträgen auf Eingliederungshilfe für seelisch
rechnen muss. Der individuelle Rechtsanspruch, den Eltern stellvertretend für ihre Kinder geltend machen,
bedarf einer intensiven und zeitaufwendigen Prüfung in der Falleingangsphase durch die Mitarbeiter/innen des
Jugendamtes. Die Zahl der potentiellen Kostenträger ist vielfältig und die Zuständigkeit ist oft strittig. SGB VIII,
SGB V, SGB XII folgen unterschiedlichen Logiken. Es besteht immer wieder die Gefahr, dass Klienten in diesem System nicht adäquat versorgt werden. Teilweise gibt es Schnittmengen zum ASD, die Zusammenarbeit
zwischen den Diensten ist immens wichtig.
Die Reform des SGB VIII, die die Zuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen beim öffentlichen Jugendhilfeträger vorsieht, ist grundsätzlich daher sehr zu begrüßen. Behinderte Kinder und Jugendliche sind zunächst
einmal Kinder und Jugendliche und werden nicht vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihrer gesundheitlichen
Einschränkung eingeordnet. Die Verpflichtung zu diesem Paradigmenwechsel ergibt sich prinzipiell aus der
UN Behindertenrechtskonvention. Die Umsetzung dieses Vorhabens ist jedoch mutmaßlich kostenträchtig und
personalintensiv. Die Standards der Jugendhilfe (z.B. Hilfeplanverfahren) sind für behinderte Kinder und Jugendliche richtig und angemessen, aber auch deutlich aufwändiger als die bisherige Praxis der Sozialämter.
Die kommunalen Spitzenverbände fordern vom Bund entsprechenden Kostenausgleich. Ob und wann der
hierzu bereits erstellte Referentenentwurf vom Bundesministerium eingebracht wird ist noch offen. Dessen
ungeachtet entwickelt das Jugendamt Pulheim Konzepte wie der Arbeitsbereich Eingliederungshilfe ausgestaltet werden kann, damit Klienten wirksam aber auch ressourcenschonend Hilfe erhalten.
Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und Kostensteuerung
Folgende Maßnahmen sind erfolgt bzw. geplant:
1. Spezialisierte Bearbeitung der Eingliederungshilfe innerhalb des ASD Teams/ Stärkung der sozialmedizinischen Kompetenz im Spezialdienst
2. Verstärkte Zuständigkeitsprüfungen durch die wirtschaftliche Jugendhilfe/ Fallabgaben an andere zuständige Rehabilitationsträger, wenn möglich
3. Realisierung eines sogenannten „Pool – Modells“ für Schulassistenz. Es handelt sich hierbei um eine
rechtlich zulässige und konzeptionell und wirtschaftlich sinnvolle Bündelung von Einzelbewilligungen.
Hierzu erfolgt ggf. eine gesonderte Beschlussvorlage.
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3.1.52 - Produkte und deren Ist-Kosten im AWZ (gem. Leistungszeitraum)
Sachgebiet: ASD/WJH (nur abgegebene HP)
Auswertungszeitraum: Jan 1, 2016 - Dez 31, 2016
Betrachtete Produkte: IM AWZ laufende Produkte mit Auszahlungen für den AWZ
II. 2. Ausgaben nach Produktart
Hilfeart
Anzahl Produkte
Auszahlungsbetrag (EUR)
Durchschnittl. Ausgaben
pro Produkt (EUR)
§ 35 a ambulant Autismustherapie
14
56.132,33
4.009,45
§ 35 a ambulant Dyskalkulie
19
28.776,05
1.514,53
9
11.269,00
1.252,11
12
50.928,79
4.244,07
§ 35 a ambulant Frühförderung
§ 35 a ambulant Legasthenie
§ 35 a ambulant sonstige
§ 35 a Gutachten
§ 35 a Integrationshelfer/Schule
0
0
27
380.277,27
14.084,34
§ 35 a Jugendwohnen gem. § 13, 3 SGB VIII
1
7.746,14
7.746,14
§ 35 a stationäre Eingliederungshilfe
6
317.296,16
52.882,69
§ 35 a teilstationäre Eingliederungshilfe
6
18.205,88
3.034,31
§ 41, 35 a Eingliederungshilfe stationär
3
149.412,18
49.804,06
§ 41, 35 a Eingliederungshilfe teilstationär
0
§ 41, 35 a Eingliederungshilfe Integrationshelfer/Schule
0
§ 41, 35 a Eingliederungshilfe ambulante
AWZ (Jan 1, 2016 – Dez. 31, 2016) gesamt:
3
19.897,26
6.632,42
100
1.039.941,06
145.204,13