Daten
Kommune
Pulheim
Größe
101 kB
Datum
23.02.2016
Erstellt
15.02.16, 18:30
Aktualisiert
15.02.16, 18:30
Stichworte
Inhalt der Datei
Vorlage Nr.:
20/2016
Erstellt am:
15.01.2016
Aktenzeichen:
II/410
Mitteilungsvorlage
Gremium
Ausschuss für Bildung, Kultur, Sport und Freizeit
TOP
ö. Sitzung
X
nö. Sitzung
Termin
23.02.2016
Betreff
Kunstprojekte der Stadt Pulheim 2016 - Ausblick
Mitteilung
2016 wird der libanesische Künstler Walid Raad eine Arbeit für die Synagoge Stommeln realisieren. Raads Werk umfasst Fotografie und Videokunst ebenso wie Text und Performance und widmet sich inhaltlich vor allem der zeitgenössischen Geschichte seines Heimatlandes, den arabisch-israelischen Konflikten und den Bürgerkriegen im Libanon. In
seinen Arbeiten greift Raad immer wieder Traumata auf, die das kollektive Gedächtnis einer Nation prägen, und reflektiert darüber das Verhältnis von Erinnerung und ihrer Visualisierung, von Dokumentation und Repräsentation, von Realität und Bildproduktion, von Fakten und Fiktion.
Bekannt wurde Walid Raad mit “The Atlas Group”, einer lange als Gruppe wahrgenommenen Stiftung, die libanesische
Zeitgeschichte in Bilddokumenten archiviert und als deren (einziger) Repräsentant Raad zwischen 1999 und 2004 auftrat.
In Ausstellungen zeigte die Atlas Group u.a. Kurzfilme eines Dr. Fadl Fakhouri aus den Bürgerkriegsjahren zwischen
1975 und 1991. Dabei handelt es sich um zwei Serien von Aufnahmen, einmal beliebige Alltagsmotive und parallel dazu
eine Sammlung von Zahnarztpraxis-Schildern. Über die Entstehung der ersten Aufnahme-Serie gibt die Bildlegende
folgende Auskunft: Wann immer Fakhouri dachte, der Bürgerkrieg sei beendet, hielt er diesen Augenblick mit einer kurzen Filmsequenz eines beliebigen Motivs fest. Diese Dokumente enttäuschter Hoffnungen gingen bei Fakhouris Tod in
den Besitz der Atlas Group über und verfügen über eine nicht minder merkwürdige Entstehungsgeschichte als beispielsweise die Schwarzweiß-Aufnahmen der Überreste von Autobombenexplosionen: Journalisten sollen während des
Bürgerkrieges Wettläufe veranstaltet haben, solche Überreste als erste zu finden. Alle Präsentationen solcher Foto- und
Filmdokumente sind von einem Statement begleitet, das sie nach ihrer Herkunft klassifiziert: „Die Dokumente wurden im
Archiv der Atlas Group aufbewahrt, das sich in Beirut und New York befindet und in drei Kategorien eingeteilt ist: [cat. A]
beinhaltet Dokumente, die bestimmten Personen zugeordnet wurden; [cat. FD] steht für Dokumente, die anonymen
Personen oder Institutionen zugeordnet wurden; [cat. AGP] ist die Abkürzung für Dokumente, die der Atlas Group selbst
zugeordnet sind.“ Da diese Klassifizierung jedoch weniger zu einer Präzisierung beiträgt als zur Irritation, ob denn die
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gezeigten Bilder authentisch oder vielleicht nicht doch allesamt Machwerk der Atlas Group sind, gerät auch die Existenz
der Atlas Group an sich in Zweifel: Ob denn diese überhaupt die quasi-wissenschaftlich arbeitende Stiftung ist, als die
sie auftritt, oder ob sie nicht doch nur eine von Raad behauptete Fiktion ist, eines seiner künstlerischen Projekte. Wenn
Raad in einem späteren Interview zugibt, dass ihm bewusst ist, „dass in sehr vielen Kulturen ein strenger Unterschied
zwischen Wahrheit und Erfindung herrscht“ (Süddeutsche Zeitung, 20. September 2006), so impliziert diese Aussage,
dass die Unterscheidung von wahr und erfunden auf sein Werk nicht angewendet werden kann. Stattdessen entstehen
seine Arbeiten als sonderbare Erzählungen, die nicht ganz stimmen, aber auch nicht falsch sind: Der Zweifel, ob das
gezeigte Bild, die textliche Aussage Fakt oder Fiktion ist, wird zum eigentlichen Kern von Raads Werk, denn mit dem
Zweifel am einzelnen Bild entwickelt sich die weitreichendere Frage nach der Glaubwürdigkeit des Mediums Bild an sich.
Die Bedeutung von Raads Œuvre liegt darin, dass er das Missverhältnis zwischen Dokumentation und Interpretation
aufzeigt, zwischen sich als dokumentarisch ausgebenden Geschichten und ihrer nicht-dokumentarischen, manipulativen
visuellen Aufbereitung in Massenmedien, Geschichte und Kunst.
Der 1967 in Chbanieh, Libanon, geborene Künstler lebt heute in New York und unterrichtet dort als Dozent an der angesehenen Cooper Union School of Art. Einzelausstellungen seiner Werke richteten unter anderem die Nationalgalerie im
Hamburger Bahnhof, Berlin, aus (2006), die Kunsthalle Zürich (2010), der Louvre, Paris, (2013) und aktuell das Museum
of Modern Art in New York (bis 31.1 2016). Seine Werke wurden u.a. bei der Documenta 11 und 13 in Kassel und auf
den Biennalen in Venedig (2004) und Sydney (2006) gezeigt, im Rahmen zahlreicher Gruppenausstellungen wie beispielsweise im Jüdischen Museum Wien („Fremde überall“, 2012), im Museum für Moderne Kunst, Frankfurt (Ray: Making History) oder in der Ausstellungshalle für zeitgenössische Kunst, Münster („Lügen. nirgends“, 2012). Raad ist Gründungsmitglied der Kölner Akademie der Künste der Welt. 2007 wurde er mit dem Deutsche Börse Photography Prize
ausgezeichnet, 2011 mit dem Hasselblad Award.
Raads Ausstellung in Stommeln hat eine ausgesprochen langfristige Vorgeschichte. Die Anfrage sowie eine erste Ortsbesichtigung erfolgten bereits in 2012; die Realisierung kann jedoch - teils wegen umfangreicher Recherchen im Vorfeld,
teils wegen Raads großer Retrospektive im New Yorker MoMA - erst vier Jahre später in Angriff genommen werden.
Sein Stommelner Vorhaben wird Raad in Kooperation mit „Situ Research“, einem in New York beheimateten interdisziplinären Projektstudio für Architektur und Raumforschung, als einen umfangreicheren baulichen Eingriff entwickeln.
Die Eröffnung wird voraussichtlich am 8. Juni stattfinden, finanziell wird die Arbeit von der Kunststiftung NRW und dem
Landschaftsverband Rheinland mitgetragen.
Eine Fortführung der Reihe Stadtbild.Intervention ist angedacht, kann bislang aber noch nicht konkretisiert werden.
Zwischenzeitlich wurde mit der Arbeit an einem kleinen Katalog zum letztjährigen Projekt von Eric Hattan und Oliver
Senn begonnen, der in Kürze erscheinen wird.