Daten
Kommune
Pulheim
Größe
163 kB
Datum
23.02.2016
Erstellt
15.02.16, 18:30
Aktualisiert
15.02.16, 18:30
Stichworte
Inhalt der Datei
Vorlage Nr.:
19/2016
Erstellt am:
19.01.2016
Aktenzeichen:
II / 410
Mitteilungsvorlage
Gremium
TOP
Ausschuss für Bildung, Kultur, Sport und Freizeit
ö. Sitzung
X
nö. Sitzung
Termin
23.02.2016
Betreff
Kunstprojekte der Stadt Pulheim 2015 - Rückblick
Mitteilung
2015 war ein ereignisreiches Jahr für die Stadtbild.Interventionen:
Anfang des Jahres wurde die Kulturabteilung von der Meldung überrascht, dass Johanna Billing den Film „Pulheim Jam
Session“ endlich fertigstellen konnte. Billing hatte bereits 2011 die Pulheimer Bevölkerung aufgerufen, sich mit ihren
Autos auf einen Wirtschaftsweg zwischen Stommelner Feldern zu begeben, um dort eine Performance zu inszenieren:
Dort sollte ein künstlicher Stau entstehen, der von einem Kamerateam dokumentiert wurde. Ursprünglich war geplant,
dass Billing unmittelbar nach der Performance aus dem vielfältigen Bild- und Tonmaterial ein Video produziert. Dieses
Vorhaben musste jedoch mehrfach wegen persönlicher Gründe Billings zurückgestellt werden. 2013 hatte die Kulturabteilung die Hoffnung auf einen Film aufgegeben und ersatzweise einen Katalog mit der Künstlerin produziert, nur um das
Projekt abschließen zu können und auch den Stauteilnehmern eine bleibende Erinnerung an das außergewöhnliche
Ereignis überreichen zu können. Zur Überraschung aller Beteiligten hat die Künstlerin jedoch an ihrem Vorhaben festgehalten und mit großem zeitlichen Engagement ihrerseits und der finanziellen Hilfe ihrer Galerie sowie weiterer Sponsoren schließlich doch noch den Film „Pulheim Jam Session“ produziert.
Die Premiere fand Anfang des Jahres in der den Film mitfinanzierenden Londoner Galerie Hollybush Gardens statt.
Anschließend gelang es der Kunsthochschule für Medien, der Kooperationspartnerin bei Stau und Katalog, Johanna
Billing nochmals von Schweden ins Rheinland zu locken und den Film in ihrer Anwesenheit sowohl an der KHM in Köln
als auch in Pulheim aufzuführen. Ein rührend-komischer Moment ergab sich, als Johanna Billing kurz vor der Filmvorführung in Pulheim Angst eingestand: Es habe ihr nichts ausgemacht, den Film in der Galerie zu zeigen, aber hier säßen ja
im Publikum dieselben Menschen, die im Stau mitgemacht hätten und mit denen sie beim Filmschnitt Wochen um Wochen gelebt habe.
Im Verlauf des Jahres konnte der Film auf zahlreichen internationalen Festivals platziert werden und trägt seitdem den
Namen „Pulheim Jam Session“ weit in die (Film-)Welt. Zu sehen war er z.B. im Juni 2015 auf dem Moskauer Filmfestival
(http://www.moscowfilmfestival.ru/miff37/eng/films/?id=37179). Anschließend wurde Billing mit dem Film zu einer
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Gruppenausstellung in Seoul eingeladen (Gyeonggi Museum of Modern Art, Ausstellung: Rhythmscape;
http://gmoma.ggcf.kr/archives/exhibit/rhythmsscape), außerdem als Solo-Ausstellung in ein neues Kunstmuseum in ihrer
Heimatstadt Jönköping (http://osterangenskonsthall.se). Im November wurde der Film zum 33. Filmfestival von Turin
eingeladen (http://www.torinofilmfest.org/en/news/521/the-dates-of-the-33rd-torino-film-festival.html und für Februar oder
März 2016 ist eine Ausstellung im Museum Villa Croce, (http://www.villacroce.org) geplant.
Vor Ort wurde die Reihe Stadtbild.Intervention 2015 mit einem neuen Projekt des Schweizer Künstlers Eric Hattan
fortgesetzt. Eric Hattan lebt und arbeitet in Basel und Paris. Ausstellungen hatte er u.a. im Aargauer Kunsthaus, Aarau,
im Musée d'Art Moderne et Contemporain, Genf, in der Kunsthalle Nürnberg und im Kunstmuseum Luzern. Verzögerungen beim Aufbau einer großflächigen und aufwändigen Installation, mit der er einen Wettbewerb um die Neugestaltung
der Tram-Linie 14 in Genf gewonnen hatte, führten dazu, dass sich auch die Realisierung des ursprünglich bereits für
2014 angefragten Projektes verzögerte und in das Jahr 2015 verschoben wurde.
Hattan ist Konzept-, Video-, Performance- und Installationskünstler und hinterfragt in seinen Arbeiten Orte, Architekturen
und Alltags-Situationen mit spielerischer Ironie – häufig, indem er buchstäblich ihre Statik in Frage stellt, Dinge oder
Prozesse um- und neuordnet oder auf den Kopf stellt. (Ausführlichere Informationen zu Eric Hattan finden sich in der
Vorlage zur Ausschusssitzung vom 29.4.2014.)
Für Pulheim hat er sich entschieden, mit dem Schlagzeuger und Architekten Oliver Senn zusammenzuarbeiten: Ihre
gemeinsamen Erkundungs-Streifzüge führten sie schließlich – nachdem es zwischenzeitlich durchaus auch Überlegungen gegeben hatte, ein Projekt in den freien Flächen zwischen den einzelnen Ortsteilen zu entwickeln – in konzentrischen Kreisen wieder zurück ins Zentrum von Pulheim: „Mitten in Pulheim. Johannisstraße 14“ hieß ihr Projekt denn
auch: Der Titel bezeichnet nicht nur den realen Standort der Installation, sondern betont auch dessen Besonderheit. Das
Grundstück „Johannisstr. 14“ liegt tatsächlich nur wenige Meter vom Stadtzentrum mit all seiner Geschäftigkeit entfernt
und ist als einer der letzten Nutzgärten im Ortskern Überbleibsel einer dörflicheren Vergangenheit. Zurzeit aber liegt der
ehemals gepflegte Garten neben dem Parkplatz am Kultur- und Medienzentrum brach. Vom Vorbesitzer aus Altersgründen aufgegeben, wartet er auf eine zukünftige Nutzung und verwildert zwischenzeitlich immer mehr, die darauf stehende
Hütte verfällt, Spontanvegetation breitet sich aus. In der Interventionsreihe sind Hattan/Senn nicht die ersten, die ein
feines Gespür oder zumindest ein Faible für Umbruchsituationen beweisen, auch sie zeigen sich von (Pulheims) Leerstellen und Brachen fasziniert, von ungeklärten Situationen, die von anstehenden oder vergangenen Änderungen künden. Denn auch dieses spezielle Fleckchen Erde ist gleichermaßen Zeugnis von Vergangenem wie Vorschein eines
Zukünftigen, - der Nutzung als Bauland, die sich an ihrem aktuell dornröschenartigem Schwebezustand ablesen lässt.
Eric Hattan und Oliver Senn entschieden sich, die alte Hütte auf dem Gartengrundstück wieder herzurichten. Sie gaben
ihr ein neues Dach, verstärkten brüchige Balken, verschlossen Löcher. Entscheidender jedoch als diese minimalen
optischen Eingriffe war die akustische Intervention, um die es dem Duo letztlich ging: In unregelmäßigen Abständen
schallte ein lautes Schlagzeugsolo aus der Hütte und machte ihn so zu einem „Rockschuppen“. Oliver Senn hatte neun
sehr verschiedene Schlagzeugsoli von 45 Sekunden bis maximal 120 Sekunden Länge in einem privaten Übungskeller
aufgenommen, die mit Hilfe von Boxen und Verstärker im Schuppen im Zeitraum zwischen 11 Uhr und 20 Uhr insgesamt
zwölfmal am Tag abgespielt wurden. Die Anlage war mit einem Zufallsgenerator programmiert, so dass sowohl die Ab-
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stände zwischen den einzelnen Stücken wie ihre Reihenfolge variierte, ggf. konnte es sehr lange Pausen zwischen den
einzelnen Stücken geben, teilweise folgten sie sehr schnell aufeinander.
Der besondere Reiz der Installation entstand dabei durch die Diskrepanz zwischen dem optischen Erscheinungsbild und
dem Klang-Erlebnis: In einem menschenleeren Garten bricht ein lautes, furioses Schlagzeugsolo aus einer verfallenden
Hütte hervor. Bei zufälligen Passanten konnte immer wieder die gleiche Reaktion beobachtet werden: Blick zur Hütte,
Verwirrung, denn wer kann so in diesem winzigen Raum Schlagzeug spielen – und warum? Mit dem Erstaunen jedoch
kann die bewusste Wahrnehmung dieses Ortes und das Nachdenken beginnen: Ortsunkundige Gäste des nahen Hotels
werden sich über die Brache wundern, Ortskundige werden sich erinnern – befand sich doch noch vor kurzem an eben
dieser Stelle ein kleines Idyll inmitten der ringsum wachsenden Stadt. Beide, Alteingesessene wie Besucher, werden
vielleicht sinnieren, wie die Verwilderung entstanden sein könnte, was zukünftig entstehen soll….So haben Senn und
Hattan mit der Absurdität ihrer Klanginstallation dazu beigetragen, den Dornröschenschlaf des Gartens noch einmal kurz
zu unterbrechen, sie haben auf die Poesie des verlassenen Ortes aufmerksam gemacht, lassen uns die Blumen nochmals wahrnehmen, die inmitten des Verfalls weiterblühen, - kurz bevor das alles, Schönheit, Chaos und Verfall, in einer
ordentlichen, aber sterilen städtischen Neubebauung verschwinden wird.
In ihrem Textbeitrag zur Installation bringt die Autorin Barbara von Flüe deren Atmosphäre auf den Punkt, wenn sie
Lucius Burckhardt zitiert, den Schweizer Soziologen, der in seiner „Spaziergangswissenschaft“ wesentliche Fragen des
Städteplanung und der Architektur thematisierte.
«Niemandsland, das ist das Land, wo der Schorsch seine selbstgebastelte Rakete zündete und wo die
Anne ihren ersten Kuss bekam. Niemandsland gibt es nicht, wenigstens nicht in einer anständig geplanten Stadt. Niemandsland ist ein Produkt der Planung: ohne Planung kein Niemandsland. (...) Niemandsland ist der Leerraum zwischen dem Stadtkörper und seinem zu groß geschneiderten Planungsanzug. Wir alle, besonders aber die Halbwüchsigen, sind ihm dankbar dafür.» (Lucius Burckhardt, «Niemandsland», 1980)
Synagoge Stommeln: Tony Cragg
Nachdem Gregor Schneider 2014 für eine radikale Umgestaltung der Synagoge gesorgt hatte, indem er diese durch
eine vorgeblendete, in ihrer biederen Normierung verstörende Einfamilienhausfassade vollständig verborgen, unkenntlich gemacht hatte, holte Anthony Cragg mit seiner Arbeit die Aufmerksamkeit wieder zurück – in das Innere des
Gebäudes.
Cragg brachte zwei Skulpturen in dem Raum ein, die zweiteilige Skulptur „Pair“ sowie die kleinere Arbeit „Line of
Thought“. Beide Werke sind ausgesprochen typisch für Craggs Formensprache, unregelmäßige, säulenartige Gebilde,
die in ihren Schichtungen an Stalagmiten erinnern, die, gleichzeitig stabil und instabil, ins Rutschen geraten scheinen
und trotzdem der Schwerkraft trotzen: Gedreht, durchbrochen, gestaucht wirken sie mit ihren Rundungen und Ausbuchtungen organisch, naturhaft, wie gewachsen und laden nicht selten dazu ein, in den multiperspektivischen Ansichten
nach menschlichen Gesichtern zu suchen (vgl. hierzu die Vorstellung von Cragg im Ausschuss von 3.3.2015).
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Obwohl der Titel der größeren Skulptur (Pair/Paar) die Assoziation an menschliche Figuren, an eine Bevölkerung des
Raumes nahelegt, so wollen Craggs Skulpturen nach dessen eigener Aussage für nichts anderes als sich selbst stehen,
für eine autonome Kunst, für das fortwährende Ringen des Künstlers mit Material und Form.
In einer Reihe von Pressereaktionen zur Synagogenausstellung wird ein fehlender Bezug zum Raum und zur Geschichte kritisiert; so auch in der Stadtrevue oder im Art-Magazin (beide August 2015). Differenzierter argumentiert Michael
Kohler im Stadt-Anzeiger (12. Juni 2015): Er verweist darauf, dass Cragg auf paradoxe Weise einen „Anknüpfungspunkt
zur Geschichte der Synagoge“ gefunden hat, „indem er diese einfach ignoriert.“ Indem Cragg einen inhaltlichen Bezug
zum Raum verweigere, vertrete er den Anspruch der Kunst auf Autonomie, den Anspruch, nichts und niemandem zu
dienen. „Dahinter steckt der Gedanke, dass uns Kunst nicht erziehen, sondern inspirieren, bezaubern und, ja die Ahnung einer anderen, besseren Welt in uns wecken soll.“ In seiner zurückhaltenden Art hatte auch Cragg dies bereits
wenige Tage zuvor in seinem Interview in Westart formuliert: Die Geschichte des Raumes könne man nicht ignorieren,
aber er wolle nicht inhaltlich auf sie eingehen. Er habe nichts Pathetisches in dem Raum machen wollen, sondern etwas
Dynamisches, er habe ihm eine Belebung geben wollen, etwas, das nach vorne schaut. Die Präsenz, mit der seine
Skulpturen sich im Raum behauptet haben, den Raum besetzt haben, wesenhaft, wie frühere oder zukünftige Bewohner
des Raumes, bekräftigt das utopische Potenzial der Kunst, eine Gegenwelt zu beschwören, was sowohl in Craggs Äußerung wie in Kohlers Statement mitschwingt. Oder, wie Michael Kohler schnodderig, aber nicht unzutreffend formuliert:
„Schöner wäre es, wenn in Stommeln noch jüdische Gottesdienste gefeiert würden. Aber auch als Abstellkammer für
Kunst erfüllt die Synagoge einen guten Zweck.“
Letzten Endes sind Gregor Schneider und Tony Cragg, bei aller Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen Arbeiten, nicht so
weit auseinander, wie es auf den ersten Blick scheint. Hatte Schneider die Synagoge erst recht sichtbar gemacht, indem
er sie verbarg, so scheint auch hinter Craggs Verweigerung einer inhaltlichen Bezugnahme die Funktion und Geschichte
des Raumes wieder auf. Und sei es denn auch nur, indem die Kritik einen stärkeren Bezug anmahnt: Die Synagoge
ohne ihre Geschichte zu sehen oder zu denken, ist unmöglich; selbst oder gerade der Versuch, dieses zu tun, hält die
Auseinandersetzung lebendig und die Ausstellungsfolge interessant.
Die Medienresonanz:
http://www1.wdr.de/fernsehen/kultur/west-art-magazin/sendungen/tony-cragg-synagoge-stommeln-102.html
(9.6.2015)
http://www.wdr5.de/sendungen/scala/cragg-stommeln-100_lpic-1_lupe-true.html (10.6.2015)
http://www.wdr3.de/kunst/tony-cragg-pair-100.html (10.6.2015)
http://www.deutschlandfunk.de/kultur-heute-sendung-vom-11-juni-2015.691.de.html?dram:article_id=322415
Focus-online (11.6.2015)
http://kunstforum.de/nachrichten
Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Rundschau, Die Welt (12. Juni)
www.art-magazin.de/blog/2015/06/12/tony-cragg-profile... (12.6.2015); art-Magazin (August 2015)
monopol-Magazin (13.6.2015)
Generalanzeiger Bonn (16.6.2015)
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Pulheimer Wochenende (24.6.2015)
www.laetitiavitae.de (25.5.2015)
Stadtrevue (August 2015)
http://www.tagsschau.de/multimedia/livestreams/livestreams2.html (17.8.2015, 10.57 Uhr).
U.a.m.
Die Besucherzahlen:
Es wurden rund 1.200 Einzelbesucher während der Öffnungszeiten gezählt, davon entfallen rund 350 auf die Eröffnung.
Am ersten Wochenende nach der Eröffnung konnte ein wahrer Besucherrekord verzeichnet werden. Am Sonntag waren
es 99 Besucher; das ist die höchste, bisher an einem Tag notierte Besucherzahl. Außerdem gab es elf Führungen für
Gruppen mit im Schnitt 15 Teilnehmern (Schulen, von der Kulturabteilung angesetzte öffentliche Führungen, Rotarier
aus Dormagen, ein Kölner VHS-Museumsbesucherkreis, private Gruppen, Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit u.a.).
Nachtrag:
Mischa Kuball, der 1994 mit seiner Lichtinstallation „refraction house“ eines der eindrücklichsten Werke in der Synagoge
realisiert hat, wurde am 17.1.2016 mit dem Deutschen Lichtkunstpreis ausgezeichnet. Der Lichtkunstpreis wird seit zwei
Jahren von der in Celle ansässigen Robert Simon Kunststiftung vergeben. Erster Preisträger war der inzwischen verstorbene Lichtkunst-Pionier Otto Piene.
„Der aktuelle Preisträger Mischa Kuball ist unter anderem seit 2007 Professor an der Kunsthochschule für Medien in
Köln. Zu seinen bekanntesten Werken zählt laut Kunstmuseum Celle die Arbeit ‚Refraction House‘: Dabei flutete Kuball
eine Synagoge in Stommeln am Niederrhein [sic] acht Wochen lang mit intensivem Licht. In seiner Installation ‚Urban
Context‘ zeichnete er in Lüneburg mit Scheinwerfern den Grundriss eines ehemaligen Führerbunkers nach.“
(https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Deutscher-Lichtkunstpreis-in-Celleverliehen,lichtkunstpreis152.html)