Daten
Kommune
Pulheim
Größe
62 kB
Datum
11.10.2011
Erstellt
04.10.11, 09:30
Aktualisiert
04.10.11, 09:30
Stichworte
Inhalt der Datei
Wie man lernt, ein Klavier zu fahren.
Als ich das erste Mal nach Pulheim kam, hat mich die Struktur der Stadt fasziniert, am
meisten vielleicht sogar die „Zwischen-Räume“ – die vielen kleinen Stadtteile zusammen
gehörig und dennoch mit vielen Feldern dazwischen. Die Struktur – nicht allzu viele
öffentliche Verkehrsmittel – lässt es fast einer amerikanischen Stadt ähneln, in der die
Menschen wirklich auf ihre Autos angewiesen sind.
Laut Statistik verfügt der Durchschnittshaushalt in Pulheim über rund 2,7 Autos. Die meisten
Menschen, die in Pulheim leben, pendeln zum Arbeiten, auch Kunst- und Kulturangebote
werden überwiegend in den größeren Städten der Umgebung wahrgenommen. Allmählich
begann ich, mich für die Autos zu interessieren – für die Beutung, die sie für die Menschen
haben, die Zeit, die diese täglich darin verbringen – und für die „Zwischen-Räume“ dieser
„konstruierten“ Stadt. So entstand die Idee, sehr direkt mit beidem zu arbeiten – und eine
Autoschlange auf einem der landwirtschaftlichen Wege zwischen den Stadtteilen zu schaffen.
Ein Stau ist etwas außerordentlich Unangenehmes und Zeitverschwendung; man würde sich
nicht freiwillig hineinstellen. Es war eine Herausforderung zu überlegen, wie etwas ganz
Anderes daraus werden könnte, etwas geradezu Entgegengesetztes: Etwa ein Umzug oder ein
ruhiges und unerwartetes Volksfest mit einer ähnlichen Organisationsstruktur wie ein
Musikfestival: einschließlich einer Rote-Kreuz-Ambulanz, Toilettenhäuschen und Helfern in
gelben Sicherheitswesten – aber ohne irgendeine andere Aktivität oder ein anderes „line up“,
nur die Autos selbst.
Mit Zeitungsaufrufen, E-Mails, Flugblättern – auch unter Autoscheibenwischer geklemmt –
konnten wir 60 Autobesitzer überzeugen, ihren Samstagnachmittag mit uns auf den windigen
Feldern zu verbringen. Kinder, Hunde, ältere Paare, Freunde und Familien waren mit von der
Partie: Die Menschen stellten ihre Autos für einige Stunden ab, um zu lesen, zu spielen, ihren
Hunden durch die Felder nachzulaufen, und sie begannen spontan, über ihre Autodächer
hinweg miteinander zu reden, und sie halfen sich am Ende gegenseitig: Denn als sich die
Schlange auflösen sollte, hatte bei drei Autos die Batterie schlapp gemacht; die Fahrer hatten
zuviel Radio gehört.
Parallel zu den Recherchen über Autos und den Reisen nach Pulheim und Köln war mir im
Jahr zuvor eine Schallplatte aus meiner alten Vinylsammlung in die Hände gefallen, an die ich
lange nicht mehr gedacht hatte. Es war Köln Concert von Keith Jarrett. Die heute berühmten
Solo-Piano-Improvisationen waren am 24. Januar 1975 im Kölner Opernhaus live aufgeführt
worden. Es war ein erstaunlicher Zufall, dass ich gerade gelesen hatte, wie das heutige
Pulheim entstanden war: Durch die kommunale Neugliederung, die ebenfalls im Jahr 1975
stattfand, hatten sich ehemals selbständige Orte zur Gemeinde Pulheim
zusammengeschlossen, die 1981 das Stadtrecht erhielt. Entscheidend aber war für mich, dass
ich schon vorher daran gedacht hatte, Klavier für den Soundtrack zu verwenden – und zu
untersuchen, wie ich Improvisation einbeziehen könnte (was immer ein bedeutender Teil
meiner Arbeit ist, sowohl im Film wie in der Musik). Es war in sich stimmig, etwas zu
machen, das fast ein Tribut an das historische Klavierkonzert in Köln war – und es in
Beziehung zu setzen zu der Autoschlange in Pulheim. Das wurde zum Ausgangspunkt für das
Projekt, das nun Pulheim Jam Session heißt. Wobei ‚Jam’ sich sowohl auf den Moment des
Improvisierens im Verkehrsstau bezieht als auch im eigentlichen, musikalischen Sinn auf eine
intime Probesituation, in der die schwedische Künstlerin und Musikerin Edda Magnason auf
einem Flügel in einer Scheune in Stommeln improvisiert.
Während ich dies schreibe, kurz nach Ende der Dreharbeiten, bin ich mit Gedanken noch
mitten im Geschehen und habe noch nicht damit begonnen, den späteren Film zu schneiden.
All die Begegnungen mit den Menschen in ihren Autos habe ich noch in lebhafter Erinnerung.
Die Geräuschkulisse aus Vogelgesang und vorbeifahrenden Autos, während Edda in der
Scheune Klavier spielt, klingt noch in mir nach. Während der Improvisationen wurde auch der
Flügel für uns mehr und mehr zu einem Fahrzeug, das zusammen mit den Autos zahlreiche
Rollen in dem Film spielen wird. Als eines der stärksten Bilder hat sich mir eingeprägt, wie
die Klaviertransporteure kamen, um den Flügel abzuholen: Das große Instrument wurde
vorsichtig in mehrere Teile zerlegt und auf einen hölzernen Transport-Trolley mit vier Rädern
gestellt – bevor es ebenfalls fort fuhr.
Johanna Billing, Stockholm, 22. Juni 2011