Daten
Kommune
Pulheim
Größe
68 kB
Datum
22.03.2011
Erstellt
14.03.11, 18:37
Aktualisiert
18.03.11, 11:58
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Grußwort
der Ministerin für Schule und Weiterbildung
des Landes Nordrhein-Westfalen,
Sylvia Löhrmann
EU-Kongress:
Auf dem Weg zur schulischen Inklusion Eine Kultur des Behaltens entwickeln und leben!
Mittwoch, 22. September 2010
- Es gilt das gesprochene Wort! -
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Meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
für die Landesregierung steht die Bildung ganz oben auf der Agenda. Im Schulressort haben wir zunächst fünf Schwerpunkte gesetzt:
Die Gemeinschaftsschule, Probleme bei G8/G9, den Ausbau des
Ganztags, die Verbesserung der Unterrichtsqualität und last but
not least die Inklusion.
Und darum bin ich froh, dass ich auf der heutigen wichtigen Fachtagung des Landschaftsverbands Rheinland „Auf dem Weg zur
schulischen Inklusion“ die Möglichkeit habe, dazu zu Ihnen zu sprechen.
Allen Beteiligten ist mittlerweile klar:
Über das Ziel des Weges, nämlich das gemeinsame Lernen von
Kindern mit und ohne Behinderung, sind wir uns einig. Aber unterwegs erwarten uns ziemlich sicher noch der eine oder andere
Umweg, unerwartete Hindernisse oder hitzige Diskussionen über
die beste Reiseroute.
Das ist immer so bei großen, richtungweisenden und anspruchsvollen Unternehmungen!
In Afrika sagt man:
„Wenn du schnell gehen willst, dann geh alleine. Wenn du weit
gehen willst, dann musst du mit anderen zusammen gehen.“
Ich möchte Sie also ermutigen, diesen weiten Weg gemeinsam zu
gehen – dabei wünsche ich Ihnen für unterwegs Zielstrebigkeit und
vor allem Ausdauer!
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Meine Damen und Herren,
seit 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen
mit Behinderung auch für Deutschland verbindlich.
Bei uns hat nun ein Paradigmenwechsel begonnen: Alle Bundesländer stehen vor der Aufgabe, ihre Schulgesetze entsprechend der
neuen gesetzlichen Grundlage weiter zu entwickeln und zu konkretisieren.
Immer mehr Menschen in Politik und Gesellschaft – ob Eltern,
Lehrkräfte, Schülerinnen, Schüler oder auch Schulträger und Schulverwaltung – verstehen, dass zwischen den Wortpaaren „Integration und Inklusion“ oder auch „Fürsorge und Empowerment“ mehr
als pädagogisch feinsinnige Unterschiede liegen.
Immer mehr Menschen verstehen: Wir müssen eine grundsätzlich
andere Schulkultur entwickeln, wir brauchen eine Kultur des Behaltens. Eine Kultur des Behaltens aller Kinder und Jugendlichen!
Meine Damen und Herren,
zu dieser Kultur gehört auch, dass weniger Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholen müssen, weil wir nämlich alles tun, um
sie „zu behalten“, indem wir sie individuell fördern!
Zu dieser Kultur des Behaltens gehört auch, dass weniger Schülerinnen und Schüler ihre Schule verlassen müssen, wenn ihre Leistungen nicht gut genug sind, dass sie „abgeschult“ werden, ein
furchtbares Wort! Wir reden dabei immer auch von der Leistung
der Schule, meine Damen und Herren!
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Wir müssen alles tun, damit unsere Schulen ihre Schülerinnen und
Schüler nicht an andere Schulformen abgeben, wenn es schwierig
wird, sondern sie behalten.
Es geht um die Verbesserung der Bildungs- und damit Lebenschancen aller Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft
oder anderen Merkmalen, wie zum Beispiel einem bestimmten
Förderbedarf. Es geht um bessere Leistungen unseres Schulsystems insgesamt, in der Spitze genauso wie in der Breite.
Meine Damen und Herren,
in unserem Koalitionsvertrag haben wir uns zur Inklusion eindeutig
positioniert:
„Die UN-Konvention räumt Kindern mit Behinderungen das Recht
auf inklusive Bildung ein. Diesem Recht wollen wir landesgesetzlich
Rechnung tragen. In einem ersten Schritt wollen wir einen Inklusionsplan entwickeln, der den Eltern das Wahlrecht über den Förderort ihres Kindes ermöglicht und weitere Schritte und Maßnahmen
beschreibt, die in den nächsten Jahren notwendig sind, um ein inklusives Bildungssystem zu schaffen …“.
Ein solcher Prozess kann nicht allein durch „Ansagen von oben“
verankert werden. Wir könnten das zwar rein theoretisch versuchen, es würde aber nicht gut funktionieren!
Es geht auch nicht allein um „ethische Grundsatzfragen“ nach einer
gerechten, diskriminierungsfreien und selbstbestimmten gesellschaftlichen Teilhabe für Menschen mit Behinderung, so wichtig
ethische Grundsatzfragen sind.
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Wir erleben zurzeit einen spürbaren wirtschaftlichen und demografischen Wandel. Und deshalb stellen sich durchaus praxisnahe
Fragen:
wer ermöglicht
in welcher Verantwortung
und mit welchen finanziellen Mitteln
inklusive Bildungsangebote?
Der Landschaftsverband Rheinland hat dazu einen zukunftsträchtigen Impuls gesetzt: Er ermöglicht flexiblere Unterstützungsformen
für Schülerinnen und Schüler in wohnortnahen Schulen, Stichwort
„Inklusionspauschale“. Durch die Inklusionspauschale können Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, die nicht an Förderschulen
des Landschaftsverbandes unterrichtet werden, an einer Schule vor
Ort die erforderlichen Unterstützungsleistungen bekommen.
Ein solches Beispiel zeigt: Es lohnt sich, gemeinsam an Umsetzungsideen, konkreten Aufgaben und flexiblen Lösungen zu arbeiten.
Wir alle, die verschiedenen Akteure, ob Land oder Kommunen,
stehen in der Pflicht! Wir stehen in der Pflicht, überzeugende
Maßnahmen umzusetzen für eine diskriminierungsfreie, chancengleiche und gerechte Gesellschaft.
Für mich heißt das: Ich werde mit den verschiedenen Beteiligten
klare Handlungsstrukturen besprechen, planen und umsetzen. Anfang dieses Jahres gab es im MSW bereits zwei Gesprächsrunden
zur Inklusion, und ich möchte ihnen einen dritten Arbeitsprozess
folgen lassen. Dabei binde ich wichtige Akteure und Verbände ein.
Dass es diese Runde, gibt ist im Übrigen der Grund, warum das
Thema Inklusion auf der Bildungskonferenz nicht angesprochen
wird. Wir wissen noch nicht, ob wir dort zu einem Konsens kom-
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men und wollen den erfolgversprechenden Prozess bei der Inklusion nicht behindern.
Meine Damen und Herren,
unser Ziel erreichen wir nur durch miteinander abgestimmte Planungen, im Großen wie im Kleinen, auf Landesebene bis hin zu den
einzelnen Kommunen.
Die kommunale Finanzierung ist in aller Munde. Wie Sie wissen,
arbeitet die Landesregierung auch daran, unsere Kommunen wieder handlungsfähig zu machen.
Aber unabhängig von der notwendigen Handlungsfähigkeit unserer
Kommunen müssen wir natürlich grundsätzlich sehr genau überlegen, wofür wir Geld ausgeben. Wir können uns keine Reibungsverluste wegen unzureichender Planung leisten.
Und deshalb ist es besonders wichtig, dass die Kommunen gut zusammen arbeiten, damit sie für unsere Kinder und Jugendlichen
qualitativ hochwertige Förderung gewährleisten können.
Wenn wir ein entsprechendes inklusives Unterrichtsangebot in jedem Bildungsgang und in jeder Schulstufe vor Ort stellen könnten:
Dann wäre das ein guter Anfang.
Denn alle Beteiligten - Eltern, Lehrkräfte und Schulträger - brauchen Verlässlichkeit, damit sie den Gedanken der Inklusion konsequent weiterentwickeln und Schritt für Schritt in die Wirklichkeit
umsetzen können.
Wir könnten zunächst für eine Übergangszeit „Schwerpunktschulen“ in bestimmten regionalen Einzugsbereichen einrichten. Natür-
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lich muss dies vor Ort mit den Beteiligten geklärt werden und dort
auch als Auftrag wahrgenommen werden.
Meine Damen und Herren,
in diesem großen Transformationsprozess zur Inklusion geht es
natürlich nicht nur um strukturelle und organisatorische Fragen.
Es geht um viel mehr! Das müssen wir immer wieder betonen und
bei den Menschen nachdrücklich darum werben:
Es geht darum, dass wir Menschen mit Behinderungen in unsere
Mitte nehmen. Dass sie einfach da sind im sogenannten normalen
Leben, dass sie uns bereichern mit ihrem vermeintlichen oder tatsächlichen Anderssein. Dass wir von ihnen lernen können und sie
von uns.
Auch im sogenannten „normalen“ Schulleben. Obwohl sich bestimmt viele Lehrerinnen und Lehrer täglich fragen: Gibt es so etwas wie ein „normales“ Schulleben überhaupt? War das nicht eigentlich immer eine Illusion?
Meine Damen und Herren,
inklusive Bildung – Gemeinsames Lernen ist nicht „nur“ gemeinsames Beisammensein in einem Klassenraum. Wir wollen ein optimales Bildungsangebot für alle umsetzen, das sich an den Bedürfnissen
und dem Fähigkeiten der jeweiligen Lerngruppe ausrichtet.
Damit uns dies gelingt, müssen sich unsere Lehrerinnen und Lehrer
öffnen für neue, ihnen bislang vielleicht unbekannte pädagogische
Sichtweisen und Unterrichtskonzepte: Die Lehrkräfte aus den allgemeinen Schulen für die Konzepte aus den Förderschulen genau-
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so wie die Lehrkräfte aus den Förderschulen für die Konzepte aus
den allgemeinen Schulen.
Dabei wird sich ein Kompetenztransfer entwickeln, eine win-winSituation für alle Beteiligten. Und wie immer werden wir dabei
feststellen können: Das Ergebnis dieses Voneinander-Lernens ist
weitaus mehr als die simple Summe der einzelnen Teile!
Meine Damen und Herren,
wir wissen schon lange, dass die Vorstellung der homogenen Lerngruppe genau das ist: Eine Illusion! Deshalb wollen wir Schülerinnen und Schüler individuell fördern, und deshalb wollen wir Inklusion.
Es ist hohe Zeit, den Gedanken der Vielfalt wirklich in unseren
Schulen zu verankern. Vielfalt ist Chance, und nicht etwa Bedrohung, meine Damen und Herren, sie ist eine echte, große Chance!
Natürlich benötigen unsere Lehrerinnen und Lehrer bei dieser
neuen Art von Zusammenarbeit Unterstützung und Fortbildung,
damit sie für diese Herausforderung weiter qualifiziert werden.
Wir brauchen eine Fortbildungsoffensive in der Lehrerfortbildung:
Alle Lehrkräfte sollen Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen unterstützen können. Aber natürlich
braucht es weiterhin spezialisierte Förderlehrkräfte, die mit ihren
besonderen Kenntnissen die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen begleiten und andere Lehrkräfte
hierin anleiten.
Die notwendigen Mittel für die Bildungsinvestitionen wie diese und
auch den Ganztag können wir u.a. deshalb zur Verfügung stellen,
weil wir Demografiegewinne im System Schule lassen. Das Kabi-
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nett hat gestern für den Nachtragshaushalt 188 Stellen für Integratives Lernen beschlossen, um in diesem Bereich eine Lehrerlücke
zu schließen. Das ist eine gute Nachricht für die Schulen!
Meine Damen und Herren,
ich weiß, dass Menschen auf anstehende Veränderungen sehr unterschiedlich reagieren: Die einen fühlen sich durch Veränderungen
beflügelt und verspüren geradezu Ungeduld, dass es endlich losgehen möge. Das ist gut so, denn wir brauchen Zuversicht, Mut und
Energie, um die große Aufgabe der Inklusion erfolgreich anzugehen!
Bei anderen Menschen jedoch rufen diese Veränderungen eher
Bedenken und Ängste hervor. Und das ist auch gut so, denn wir
brauchen genauso kritisches Reflektieren, Überprüfen und Abwägen, um die große Aufgabe der Inklusion erfolgreich anzugehen!
Wir
werden
einen
breit
angelegten
Dialog
zur
UN-
Behindertenrechtskonvention führen, und so werden wir konkrete
Schritte zur Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens und damit
auch eines inklusiven Schulsystems tun. Wir werden dabei bereits
beschrittene Pfade aufnehmen und weiterentwickeln, es wird aber
auch neue Wege geben.
Meine Damen und Herren,
im vergangenen Jahr ist ein Versuch, bei diesem wichtigen Thema
im Landtag zu einem fraktionsübergreifenden Antrag zu kommen,
leider gescheitert. Obwohl wir uns schon sehr weit aneinander
angenähert hatten!
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Die Fraktionen von Bündnis 90/ Die Grünen und SPD haben noch
vor Bildung der neuen Landesregierung Anfang Juli einen neuen
Antrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im
Schulsystem in den Landtag eingebracht. Im Schulausschuss vereinbarten die Fraktionen nun Anfang September, erneut zu prüfen, ob
sie zu einem gemeinsamen Antrag kommen.
Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Herr Laumann, hat in diesem
Themenfeld Kooperation angeboten. Darüber freue ich mich und
bin deshalb zuversichtlich, dass ein neuer Versuch diesmal erfolgreicher sein wird.
Ich sehe viel Übereinstimmung, denn wir alle wollen
• den Ausbau des gemeinsamen Lernens vorantreiben und
• die allgemeine Schule in den Mittelpunkt rücken. Dabei spielt
die Sonderpädagogik eine wichtige Unterstützerrolle!
• Wir alle wollen, dass der Elternwille bei der Wahl des schulischen Förderortes berücksichtigt wird.
Meine Damen und Herren,
es ist gut, dass Sie mit Ihrem heutigen Fachkongress den Diskussionsfaden wieder aufnehmen und einen Beitrag zu Debatte leisten.
Ein Blick in andere Länder zeigt uns ja schon seit längerem, dass ein
erfolgreiches „inklusives Schulsystem“ durchaus möglich ist.
Ich wünsche Ihnen intensive Gespräche und gute Ansätze für Ihre
persönliche Routenfindung auf dem Weg zu einer inklusiven Schule. Und dabei ermutigt Sie vielleicht ein schöner Satz des Freiherrn
Adolph von Knigge. Der sagt nämlich nicht nur tiefsinnige Dinge zu
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den Vorteilen eines höflichen und wertschätzenden Miteinanders,
sondern offeriert auch folgenden tröstlichen Gedanken:
„Zum Reisen gehört Geduld, Mut, Humor und dass man sich durch
kleine widrige Zufälle nicht niederschlagen lasse.“
Ich wünsche Ihnen heute einen Reisetag ohne Widrigkeiten und
einen inspirierenden Austausch!