Daten
Kommune
Leipzig
Dateiname
1302603.pdf
Größe
117 kB
Erstellt
18.08.17, 12:00
Aktualisiert
25.01.18, 15:05
Stichworte
Inhalt der Datei
Antrag Nr. VI-A-04713
Status: öffentlich
Eingereicht von
Migrantenbeirat
Betreff:
Zugang zur psychiatrischen Behandlung von Migrant/innen und Geflüchteten:
Öffnung der SprInt-Mittel für die ärztliche Versorgung durch den Verbund
gemeindenahe Psychiatrie
Beratungsfolge (Änderungen vorbehalten):
Gremium
voraussichtlicher
Sitzungstermin
Zuständigkeit
Ratsversammlung
07.09.2017
Verweisung in die Gremien
Beschlussvorschlag:
1. Der Oberbürgermeister wird beauftragt, die Mittel für den Sprach- und
Integrationsmittlerpool „SprInt“ für die fachärztliche Versorgung durch den Verbund
gemeindenahe Psychiatrie des St. Georg Klinikums zugänglich zu machen.
2. Der Oberbürgermeister wird beauftragt, das entsprechende Budget des Referats für
Migration und Integration bzw. des Gesundheitsamtes um 30.000 € aufzustocken.
Sachverhalt:
In den letzten Jahren ist ein Anstieg der Anzahl von psychischen Erkrankungen und Suiziden
zu verzeichnen. Migrant/innen und Menschen mit Fluchtgeschichte haben ein erhöhtes
Risiko, psychisch zu erkranken und weisen ein erhöhtes Suizidrisiko auf. Bei der
letztgenannten Gruppe ist das Traumatisierungsrisiko besonders hoch: Im Rahmen der 2015
in Leipzig durchgeführten Regionalkonferenz über die psychiatrisch-psychotherapeutische
Versorgung von Flüchtlingen in Sachsen rechnete man mit 8.000 bis 10.000 Fällen von
posttraumatischen Belastungsstörungen in Sachsen pro Jahr (vgl. www.mosaikleipzig.de/wp-content/uploads/2015/12/Ergebnisprotokoll-Regionalkonferenz_29.9.2015.pdf).
Trotz des gegebenen Bedarfs ist der Zugang zu einer adäquaten psychiatrischen und
psychotherapeutischen Versorgung für diese Menschen nicht zuletzt durch sprachliche und
kulturelle Verständigungsschwierigkeiten erschwert. Das gilt insbesondere für Menschen, die
nicht mehr in den Gemeinschaftsunterkünften leben und demzufolge vom Zugriff auf das
Budget für Sprach- und Integrationsmittlung des Sozialamtes ausgeschlossen sind. Das
betrifft zum einen infolge des verstärkten Zuzugs der letzten Jahre gekommene Geflüchtete,
aber auch länger in Leipzig lebende Migrant/innen, deren Sprachkenntnisse nicht für eine
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Verständigung im psychiatrischen Kontext ausreichen. Der geringe Anteil der
niedergelassenen Fachärzte mit Sprachkompetenzen kann den Versorgungsbedarf nicht
decken.
Während für die niedrigschwelligen Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes des
Verbundes gemeindenahe Psychiatrie in Leipzig ein Budget für den Einsatz von Sprach- und
Integrationsmittler/innen vorgesehen ist, erstreckt sich dieser Einsatz nicht auf die ärztliche
Versorgung durch diese Institution. Somit gibt es an der Schwelle zur ärztlichen Behandlung
einen Schnitt, die Betroffenen haben u.a. keinen Zugang zur adäquaten medikamentösen
Behandlung. Dabei gibt es derzeit ungefähr 50 Patient/innen, die eine entsprechende
Behandlung benötigen, aber zum Teil offensichtlich wegen mangelnder Verständigung den
Kontakt abgebrochen haben, so Herr Seyde, der Psychiatriekoordinator der Stadt Leipzig.
Das psychosoziale Zentrum für Geflüchtete des Mosaik e.V. in Leipzig schätzt den Bedarf an
dolmetscher/innengestützter psychiatrischer Versorgung als enorm hoch ein.
Die Öffnung sowie die entsprechende finanzielle Aufstockung der SprInt-Mittel für die
ärztliche Versorgung durch den Verbund gemeindenahe Psychiatrie würde den Zugang zur
adäquaten psychiatrischen Versorgung von Geflüchteten und Migrant/innen gewährleisten
und der entsprechenden Forderung der s.g. Sonneberger Leitlinien (s. Anlage) gerecht
werden. Durch den Abbau von Verständigungsschwierigkeiten wird außerdem zum einen die
Anzahl wiederholter und zum Teil unnötiger Mehrfachuntersuchungen und damit
verbundener Kosten reduziert, zum anderen senkt die Behandlungskontinuität das
Chronifizierungsrisiko und wirkt als Suizidprävention.
Anlagen:
„Wie können Migranten in therapeutische Prozesse und psychiatrische Versorgungssysteme
integriert werden? Ergebnis einer Fachtagung im Internationalen Haus Sonnenberg/Harz
8.11.-10.11.2002: Die Sonnenberger Leitlinien“
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Die Sonnenberger Leitlinien
Wie können Migranten
in therapeutische Prozesse und
psychiatrische Versorgungssysteme
integriert werden?
Ergebnis einer Fachtagung im
Internationalen Haus Sonnenberg/
Harz 8.11. – 10. 11. 2002:
Die Sonnenberger Leitlinien1
Der Sonnenberg-Kreis e.V. ist freier Träger internationaler außerschulischer Bildungsarbeit in Europa.
In seiner Tagungsstätte, dem Internationalen Haus
Sonnenberg (IHS) bei St. Andreasberg/Oberharz,
finden das ganze Jahr über Veranstaltungen statt,
zumeist mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus
mehreren Ländern, Tagungen für Erwachsene und
Jugendliche, Wochenkurse auch als „Bildungsurlaub“, Familienseminare, Lehrerfortbildung sowie
Fachtagungen vor allem zu pädagogischen und sozialen Fragen. Die Sicherung der Menschenrechte,
Frieden, Solidarität, gesellschaftliche Verantwortung sind die Themen der inhaltlichen Arbeit vom
IHS (vgl. www.sonnenberg-international. de).
Hier organisierten das Referat für Transkulturelle Psychiatrie2 der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN), die Deutsch-Türkische Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit e.V. (DTGPP), die Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover und das Ethno-Medizinisches Zentrum
e.V., Hannover, als Veranstalter nicht ihre erste Tagung.
Diese vom 8.-11.11.2002 durchgeführte Tagung
wollte vor allem inhaltliche, konzeptionelle und methodische Handlungsperspektiven und Standards
für eine Integration von Migranten in therapeutische
prozesse- und psychiatrische Versorgungssysteme
reflektieren. In seiner Zusammenfassung3 beschreibt für die Veranstalter WIELANT MACHLEIDT,
dass „die Rahmenbedingungen für die Integration
psychisch kranker MigrantInnen die europäische
Einwanderungspolitik, das deutsche Zuwanderungsgesetz und die Politik der interkulturellen Öffnung im deutschen Gesundheitswesen bilden. In einem Land mit gesetzlich geregelter Zuwanderung
wie der Bundesrepublik Deutschland gehe es nicht
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um die einseitige Anpassung der Migrantenpopulation an das Gesundheitssystem, sondern um die Öffnung und Qualifizierung des Systems in allen seinen
Bereichen, wie z.B. im Bereich der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung, für die Bedürfnisse und psychohygienischen Erfordernisse der
Migrantenpopulation. Es gehe dabei um einen
wechselseitigen Prozeß des Kompetenzzuwaches
und der Vertrauensbildung mit dem Ziel, MigrantInnen mit denselben hohen Qualitätsstandards und
Heilerfolgen zu behandeln wie Einheimische.
Dafür bestehen in der deutschen Psychiatrie und
Psychotherapie unter historischen und Gegenwartsaspekten gute Voraussetzungen. Emil Kraepelins
Untersuchungen zur Frage der kulturübergreifenden
Anwendbarkeit psychiatrischer Klassifikationssysteme bildeten den Beginn der transkulturell-psychiatrischen Forschung in Deutschland4 und waren
Ausgangspunkt für die heute weltweit verbreiteten
diagnostischen Systeme ICD-10 und DSM IV.
Deutschsprachige Ethnopsychoanalytiker wie Parin, Morgenthaler, Erdheim u.a. gaben der kulturübergreifenden analytischen Forschung und Theoriebildung wesentliche Impulse. Deutsche Psychiaterinnen und Psychiater wirkten in Entwicklungsländern am Aufbau der psychiatrischen Versorgung,
der studentischen Lehre, in der Aus- und Weiterbildung von Fachärztinnen und -ärzten sowie bei der
Gründung psychiatrischer Fachgesellschaften federführend mit. Insbesondere im letzten Jahrzehnt
hat es zahlreiche ermutigende Initiativen zur Öffnung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystems in Deutschland auf der Ebene der
Kommunen, der Länder sowie des Bundes gegeben.
Die migrationsbezogenen Spezialdienste kirchlicher und karitativer Organisationen haben dazu hilfreiche Vorarbeit geleistet. Die Bedeutung der Versorgung psychisch kranker MigrantInnen ist von
den unterzeichnenden und weiteren Fachgesellschaften und Institutionen auf wissenschaftlichen
Kongressen und Weiterbildungstagungen zum Thema gemacht worden. Die Migrationsforschung sei
dadurch intensiviert und qualitativ erheblich verbessert worden.“
Das Ergebnis sind die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, auf der Tagung verabschiedet.5
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Tagungsberichte/Reports
Die 12 Sonnenberger Leitlinien
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9.
Erleichterung des Zugangs zur der psychiatrisch-psychotherapeutischen und allgemeinmedizinischen Regelversorgung durch Niederschwelligkeit, Kultursensitivität und Kulturkompetenz
Bildung multikultureller Behandlerteams aus
allen in der Psychiatrie und Psychotherapie
tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz
Organisation und Einsatz psychologisch
geschulter FachdolmetscherInnen als zertifizierte Übersetzer und Kulturmediatoren
“Face-to-Face” oder als TelefondolmetscherInnen
Kooperation der Dienste der Regelversorgung
im gemeindepsychiatrischen Verbund und der
Allgemeinmediziner mit den Migrations-,
Sozial- und sonstigen Fachdiensten sowie mit
Schlüsselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und -verbänden. Spezielle Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen notwendig machen.
Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen an der Planung und Ausgestaltung der
versorgenden Institutionen
Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren über
das regionale gemeindepsychiatrische klinische und ambulante Versorgungsangebot und
über die niedergelassenen PsychiaterInnen
und PsychotherapeutInnen sowie Allgemeinärztinnen/ärzte
Aus-, Fort- und Weiterbildung für in der
Psychiatrie und Psychotherapie und in der Allgemeinmedizin tätige MitarbeiterInnen unterschiedlicher Berufsgruppen in transkultureller
Psychiatrie und Psychotherapie unter Einschluß von Sprachfortbildungen
Entwicklung und Umsetzung familienbasierter
primär und sekundär präventiver Strategien
für die seelische Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen aus Migrantenfamilien
Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung
10. Sicherung der Qualitätsstandards für die
Begutachtung von Migranten im Straf-, Zivil(Asyl-) und Sozialrecht
11. Aufnahme der transkulturellen Psychiatrie und
Psychotherapie in die Curricula des Unterrichts für Studierende an Hochschulen
12. Initiierung von Forschungsprojekten zur seelischen Gesundheit von MigrantInnen und
deren Behandlung
Die auf den Gebieten der Psychiatrie, der Psychotherapie und der Nervenheilkunde tätigen Fachgesellschaften werden aufgerufen, sich die Qualitätsstandards der „12 Sonnenberger Leitlinien“ zur
Verbesserung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen mit psychischen Störungen in Deutschland zu eigen zu
machen. Sie werden weiter dazu aufgerufen, ihre
Mitglieder zu motivieren, diese in der Krankenversorgung, in der studentischen Lehre, in der Ausbildung von Fachärztinnen/ärzten, in der Fortbildung
aller in der Psychiatrie und Psychotherapie und der
Allgemeinmedizin tätigen Berufsgruppen und in der
Forschung zur Verbesserung der seelischen Gesundheit und gesellschaftlichen Integration von MigrantInnen durchzusetzen.
Prof. Dr. Wielant Machleidt (Kontaktadresse)
Leiter des Referats für Transkulturelle Psychiatrie der DGPPN, Direktor der Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische
Hochschule Hannover,
Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover,
Tel. +49 511 532 6616, Fax +49 511 532 2408,
E-Mail: machleidt.wielant@mh-hannover.de
Anmerkungen
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3.
4.
5.
Der Bericht ist aus den genannten Veröffentlichungen von
W. Machleidt zusammengestellt und geringfügig für curare
von Ekkehard Schröder überarbeitet und erweitert worden.
MACHLEIDT W. 2002. Referat für Transkulturelle Psychiatrie: Ziele und Aktivitäten. Der Nervenarzt 73, Heft 5: 485486.
MACHLEIDT W. 2002. Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur
psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen in Deutschland. Der Nervenarzt 73, Heft 12:
1208-1209.
KRAEPELIN Emil 1980 (Nachdruck von 1904). Vergleichende Psychiatrie. Curare 3,4:245-250 und FRIESSEM
Dieter H. 1980. Emil Kraepelin und die vergleichende
Psychiatrie. Curare 3,4: 250-255.
Die Veröffentlichung der Tagung ist vorgesehen.
VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung