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Krefeld
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Datum
16.01.2019
Erstellt
18.12.18, 16:46
Aktualisiert
25.01.19, 00:04
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Verkehrsunfälle
Im toten Winkel
Abbiegende Lastwagen gefährden Radfahrer und Fußgänger.
Elektronische Assistenten könnten tödliche Unfälle verhindern. Wann wird
die Technik endlich Pflicht?
Von Dirk Asendorpf
23. Mai 2018, 17:01 Uhr / Editiert am 25. Mai 2018, 8:01 Uhr / DIE ZEIT Nr. 22/2018, 24. Mai 2018 /
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AUS DER ZEIT NR. 22/2018
Gegenüber großen Fahrzeugen sind Radfahrer immer im Nachteil.
© Daniel Cullen/plainpicture
Von einem Lastwagen beim Rechtsabbiegen überrollt und getötet
[https://www.zeit.de/mobilitaet/2016-06/lkw-toter-winkel-abbiegen-neuetechnik-verkehrssicherheit]: Es ist eine gruselige Liste, die Thomas Schlüter aus
Meldungen der Lokalpresse zusammenstellt. Der Radfahrer führt sie, weil es
sonst niemand tut; in der offiziellen Verkehrsunfallstatistik werden die Fälle
nicht eigens erfasst. Dabei hat es in Deutschland allein in diesem Jahr bereits
15 Radfahrer getroffen, am 7. Mai sogar zwei an einem Tag. Alle waren auf
einem Radweg unterwegs, alle hatten Vorfahrt. Das jüngste Opfer war erst
neun Jahre alt, das älteste 73. Seit Jahren steigt die Zahl der Todesfälle. 2013
waren es 28, 2017 bereits 38. Dabei hätten die meisten Unfälle verhindert
werden können.
Die Technik dafür ist seit über einem Jahrzehnt vorhanden. Sie wäre zudem –
dank eines 80-Prozent-Zuschusses aus dem Bundesverkehrsministerium –
spottbillig. Die Leasing-Kosten eines Lastwagens würden um gerade einmal
zehn Euro pro Monat steigen. Dafür könnten Kameras und Sensoren den toten
Winkel vor und rechts neben dem Lkw überwachen und den Fahrer vor
Fußgängern und Radfahrern warnen, die er im Rückspiegel nicht sehen kann.
Dass nicht längst alle Lkw mit solch einem elektronischen Abbiegeassistenten
[https://www.zeit.de/mobilitaet/2015-07/lkw-assistenzsysteme-daimlerverkehrsministerium] unterwegs sind, ist ein Skandal. Zwar bringt niemand
öffentlich Argumente gegen die Technik vor. Die notwendigen Vorschriften
kommen dennoch nicht voran.
Bereits 2009 hatte der ADAC der Firma MAN für ihren elektronischen
Abbiegeassistenten den Gelben Engel verliehen. Doch bis heute hat die VWTochter das prämierte System nicht auf den Markt gebracht. Der offizielle
Grund: Damit es zu möglichst wenigen Fehlwarnungen komme, müsse das
System "entwicklungsseitig noch umfassend getestet werden", so MANSprecher Martin Böckelmann. Der Actros, ein 40-Tonner von Mercedes, ist
bisher der einzige Lkw mit einem serienmäßig eingebauten
Abbiegeassistenten.
Der Berliner Spediteur Michael Sünkler hat zwei dieser Sattelschlepper im
Einsatz. "Das System funktioniert gut", sagt er, "die Fahrer sind zufrieden." In
einer Innenstadt mit einem Lkw rechts abzubiegen sei eine der
kompliziertesten Aufgaben. Schließlich müssen die Fahrer dabei nicht nur den
Verkehr vor und neben sich im Auge behalten, sondern auch die Bewegungen
in einem halben Dutzend Rückspiegeln. Kommt es dennoch zum Unfall, leiden
die Fahrer den Rest des Lebens unter der Last, einen Menschen verletzt oder
getötet zu haben. Das hat auch die Berufsgenossenschaft anerkannt und
finanziert den Unfallfahrern psychologische Betreuung.
Speditionen, Unfallversicherer, der ADAC wie sein Radler-Pendant ADFC sind
einer Meinung: Elektronische Abbiegeassistenten sollten für alle Neufahrzeuge
vorgeschrieben sein, ältere Lkw damit nachgerüstet werden. Der neue
Koalitionsvertrag klingt ebenso eindeutig. "Wir werden nicht abschaltbare
Notbremssysteme oder Abbiegeassistenten für Lkw und Busse verbindlich
vorschreiben", heißt es dort.
Doch offenbar haben sich die Regierungsparteien nicht mit der Gesetzeslage
befasst. Denn für solch eine Regelung ist Berlin gar nicht zuständig. "Ein
nationaler Gesetzentwurf kann das Problem nicht lösen", teilt das
Bundesverkehrsministerium mit. Eine nationale Vorschrift wäre vielmehr ein
Verstoß gegen EU-Bestimmungen.
[https://premium.zeit.de/abo/
diezeit/2018/22]
Dieser Artikel stammt aus der
ZEIT Nr. 22/2018. Hier
können Sie die gesamte
Ausgabe lesen.
[https://premium.zeit.de/abo/
diezeit/2018/22]
Zu dieser Erkenntnis waren auch schon zwei Runde
Tische gekommen, die sich 2012 und 2014 im
Bundesverkehrsministerium mit dem Thema befasst
hatten. Daraufhin hat Deutschland bei den Brüsseler
Behörden Vorschläge für eine Regelung eingereicht.
Die wollen nun innerhalb der nächsten drei Jahre
etwas beschließen. Das hat EU-Verkehrskommissarin
Violeta Bulc vergangene Woche versprochen.
Allerdings hält selbst die Dachorganisation der
europäischen Radfahrerverbände den Zeitplan für
unrealistisch. "Das dauert noch mindestens vier
Jahre", sagt deren Sprecher Ceri Woolsgrove.
In der Zwischenzeit könnte sich Deutschland ein
Vorbild an der britischen Hauptstadt nehmen. Wer
sich in London um einen öffentlichen Auftrag bewirbt, muss ein detailliertes
Regelwerk einhalten, das die Stadtverwaltung vor fünf Jahren aufgestellt hat.
Dazu gehört die Ausstattung aller schweren Lieferfahrzeuge mit einem
Warnsystem [https://www.zeit.de/mobilitaet/2018-02/radfahrer-bike-flashwarnsystem-abbiegeunfaelle-verkehr-sicherheit] für das unfallträchtige
Abbiegen. Mehr als 500 Baufirmen und Logistikunternehmen haben die
Selbstverpflichtung unterschrieben. In Deutschland hat bislang nur Edeka seine
Liefer-Lkw auf eigene Faust mit einem Abbiegeassistenten ausgestattet.
All diese Systeme beschränken sich auf das reine Warnen. Der ADFC, der
Logistik-Verband BGL und die Versicherer gehen noch einen Schritt weiter: Sie
fordern automatische Abbiegeassistenten, die das Fahrzeug im Notfall
eigenständig bremsen. Und sie wollen, dass die Systeme nicht wie bisher
möglich vom Fahrer abgeschaltet werden können.
Weil sie sich auch in den nächsten Jahren nicht darauf verlassen können, dass
ein Lkw-Fahrer sie sehen kann, bleibt Fußgängern und Radfahrern vorerst nur
ein guter Rat. Sie sollten – selbst wenn sie Vorfahrt haben – immer den
Blickkontakt ins Führerhaus suchen. Solange dieser nicht möglich ist, bleibt
nur eine Lebensversicherung: warten und den Lkw gegebenenfalls vorlassen.
Die Experten vom Logistik-Verband BGL sagen es so: "Denken Sie immer an den
toten Winkel!"